Frauen, Flucht – und Frieden? Interview mit Nadine Segadlo

Nadine Segadlo ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt Frauen Flucht – und Frieden? Friedensfördernde Praktiken von Frauen in Flüchtlingslagern am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) und am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück unter der Leitung von Prof. Dr. Ulrike Krause. Das Projekt untersucht im Rahmen der Kritischen Friedensforschung, welche Bedeutung Frieden für geflüchtete Personen hat und wie Frieden sich in ihren alltäglichen Handlungen äußert. Es wird von der Deutschen Stiftung Friedensforschung gefördert. Uns hat sie mehr über ihre Forschung erzählt.
Frau Segadlo, erstmal vielen Dank, dass Sie die Zeit gefunden haben!
Ich danke Ihnen für das Interesse.
Sie untersuchen die friedensfördernden Praktiken von Frauen in Flüchtlingslagern. Was heißt das genau?
Also der Ausgangspunkt unseres Projekts ist, dass wir festgestellt haben, dass im Zusammenspiel von Flucht und Konflikt Frieden ein weitgehend vernachlässigtes Thema ist. Ein großer Fokus liegt auf verschiedenen Formen von Gewalt: Geflüchtete Menschen sind unterschiedlichen Gewaltgefahren ausgesetzt. Sie fliehen vor verschiedenen Gewaltfolgen und sie erleben auch anhaltende Konfliktgewalt auf der Flucht und in Aufnahmesituationen wie beispielsweise Lagern.
In der Literatur wurde in den letzten Jahren ein immer größeres Augenmerk auf Agency, also die eigene Handlungsmacht, von geflüchteten Personen gelegt. Flucht selbst impliziert ein gewisses Maß an Agency, da es eine aktive Entscheidung ist, sich von einem Ort wegzubewegen. Es gibt aber auch eine ganze Form von individuellen und kollektiven Praktiken, um mit den Herausforderungen, die daraus resultieren, umzugehen. Aber: In dieser Forschungsrichtung spielt Frieden kaum eine Rolle. Frieden wird so gut wie nie als aktive Praktik thematisiert. Wir möchten einen Beitrag zum Füllen dieser Lücke leisten. Anhand der Forschung mit geflüchteten Menschen in Kenia und Deutschland versuchen wir herauszufinden, was die Menschen unter Frieden verstehen und wie sie sich dann für Frieden einsetzen. Welche Praktiken, aber auch welche Grenzen und Möglichkeiten erfahren sie dabei?
Sie konzentrieren sich ja auf geflüchtete Frauen bei Ihrer Forschung. Wieso halten Sie die geschlechterspezifische Perspektive für wichtig?
Geflüchtete Menschen machen geschlechtsspezifische Erfahrungen und sind auch unterschiedlichen Gefahren ausgesetzt. Frauen und Mädchen erfahren häufig sexuelle und häusliche Gewalt, strukturelle Diskriminierung, oder Zwangsverheiratung, Männer und Jungen dagegen Zwangsrekrutierung durch Konfliktparteien und andere Gewaltformen. Ein wissenschaftlich wiederkehrend diskutierter Punkt ist auch, dass Frauen unzureichend in internationale Friedensbemühungen involviert sind. Zum anderen ist es uns wichtig, über die weitverbreitete Konstruktion der weiblichen Opfer und männlichen Täter hinauszugehen. Es gibt ja auch die Annahme, dass Frauen besonders friedfertig seien. Wir betonen, dass das alles übergestülpte Labels und Konstruktionen sind. Und deshalb ist uns eine gendersensible Analyse wichtig. Aber das bedeutet nicht, dass Männer überhaupt nicht im Fokus stehen. Wir möchten sowohl mit Frauen als auch Männern sprechen und am liebsten noch über diese binäre Darstellung hinausgehen.
Jetzt haben wir ein bisschen darüber gesprochen, wie dass Projekt angelegt ist. Wie sieht die Forschung denn konkret aus?
Unser Projekt ist als Fallstudie ausgelegt: Wir möchten mit Menschen im Flüchtlingslager Kakuma in Kenia über Friedensvorstellungen und Friedenspraktiken sprechen. Ich habe meine Stelle als Projektmitarbeiterin im Januar 2020 begonnen und wir alle wissen ja, dass sich dann durch Corona vieles verändert hat. Reisen und Forschung vor Ort war dann erstmal nicht mehr möglich und ist es immer noch nicht. Aktuell darf nur medizinisches Personal das Flüchtlingslager Kakuma betreten, da dort erst wenige Menschen gegen das Corona Virus geimpft sind. Wir mussten also Anpassungsstrategien finden. Nun haben wir zum einen den Fall auf Deutschland ausgeweitet und konnten hier auch schon verschiedene Interviews mit Geflüchteten führen. Zum anderen haben wir uns mit verschiedenen Expert:innen unterhalten, die schon zu dem Thema oder im Kontext Kakuma geforscht haben. Aus diesen Gesprächen sind weitere Kontakte und auch Zugänge zu Menschen in Kakuma über verschiedene digitale Medien entstanden. Und wir haben bisher sehr viel Literaturarbeit gemacht. Unser umfassender Literaturüberblick zum Thema wurde vor kurzem in der Zeitschrift Refugee Survey Quarterly veröffentlicht. Und zusätzlich haben wir noch eine Online Umfrage mit unserer Kollegin aus Freiburg – Franzisca Zanker – zu den Auswirkungen von Covid-19 auf Geflüchtete und Flüchtlingsschutz in sechs afrikanischen Ländern durchgeführt. Wir sind hoffnungsvoll, dass es vielleicht im nächsten Jahr möglich sein wird, unsere Feldforschung praktisch umzusetzen oder dass sich alternative Möglichkeiten der Datenerhebung auftun.
Sie kritisieren, dass Frieden oft nur im Zusammenhang mit einer möglichen Rückkehr untersucht wird und nicht im Alltag der Geflüchteten. Wieso halten Sie Frieden auch in alltäglichen Handlungen für so wichtig?
Wenn Frieden im Kontext konfliktbedingter Flucht diskutiert wird, dann wird er vornehmlich unter bestimmten Gesichtspunkten betrachtet: Als Bedingung für eine Rückkehr an den Herkunftsort, geflüchtete Menschen werden selbst als ‚Destabilisator:innen‘ oder ‚Sicherheitsrisiken‘ für ihre bestimmten Kontexte betrachtet oder Frieden wird als etwas verstanden, das geflüchteten Menschen beigebracht werden müsse, im Sinne von Friedensbildung. Das ist allerdings eine sehr vereinfachte Darstellung, in der den Menschen auch wieder bestimmte Labels und Kategorisierungen übergestülpt werden.
Wir möchten gerne darüber hinaus gehen. Deswegen legen wir den Fokus auf das Alltägliche. Geflüchtete Menschen nehmen Einfluss auf Frieden in der Gemeinschaft, in der sie gerade sind oder in Bezug auf Herkunftsorte und zwar, indem sie sich in ganz alltäglichen Handlungen mit Frieden auseinandersetzen. Wir wollen genau das untersuchen, um dann von den vielen Labels und Kategorisierungen abzurücken und die alltäglichen Praktiken in den Fokus zu rücken.
Sie schreiben ja, dass Sie „von einer vorgefertigten, feststehenden und ggf. eurozentrischen Friedensdefinition“ absehen. Könnten Sie kurz erklären, was Sie damit meinen und wieso das problematisch ist?
Wir wollen die eigenen Vorstellungen und Praktiken der geflüchteten Menschen ins Zentrum rücken, ohne diese durch unsere vorgefertigte eurozentristische Definition zu lesen und zu bewerten. Natürlich können wir uns nicht völlig frei machen von unseren Vorstellungen und Privilegien als weiße Forschende, die im globalen Norden sozialisiert sind. Aber wir können diese Vorstellungen eben sichtbar machen und kritisch reflektieren. Das meinen wir mit der Abkehr von einer vorgefertigten Friedensdefinition. Wir möchten möglichst offen an die Thematik herangehen und Raum geben für die eigenen Sichtweisen geflüchteter Menschen.
Merken sie als Wissenschaftlerin oder im Team, dass Ihre Forschung Sie persönlich oder durch Ihre eigene Sozialisation vorgefertigte Auffassungen von Frieden auch beeinflusst?
Ja, auf jeden Fall! Ich denke, dass Gespräche mit anderen Menschen immer die eigenen Sichtweisen herausfordern können, vor allem, wenn das Gegenüber andere Erfahrungshorizonte hat. Und sie können auch auf struktureller Ebene betrachtet werden: Welche Vorstellungen korrespondieren da vielleicht auch mit eigenen Sozialisationen oder gesellschaftlich weit verbreiteten und prägenden Bildern? Und da ist es natürlich unglaublich bereichernd, in die Literatur einzusteigen und zu lesen, aber vor allem, mit so unterschiedlichen Menschen ins Gespräch zu kommen.
Ihr Projekt ist Teil der Kritischen Friedensforschung. Was unterscheidet diese von der „klassischen“ Friedensforschung?
Aus meinem Verständnis ist die klassische Friedensforschung an einen engen, bzw. negativen Friedensbegriff angelehnt, der Frieden als Abwesenheit jeglicher kriegerischer Auseinandersetzung definiert. Die kritische Friedensforschung orientiert sich eher an einem weiten Friedensbegriff, der die Abwesenheit von struktureller Gewalt in den Mittelpunkt rückt Also die vielen unterschiedlichen politischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen Verhältnisse, die Ungleichheiten hervorrufen und somit strukturell Lebenschancen, Beteiligungsmöglichkeiten, etc. einschränken.
Vielen Dank für das Interview und wir sind sehr gespannt, wie Ihre Forschung sich noch entwickelt. Wer weiterhin an dem Projekt interessiert ist, kann sich auf der Internetseite des Projekts über alle projektrelevanten Veröffentlichungen und Veranstaltungen informieren.
Interview: Gina Tomaszewski
Kategorien