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Marcel Lewandowsky

Der Demokratie-Forscher Marcel Lewandowsky hat mit uns über Frieden und seine Bedrohungen gesprochen. Wie Frieden aus politikwissenschaftlicher Sicht definiert wird und weshalb Populismus diesen bedroht, lest ihr im Interview.

Marcel Lewandowsky, geboren 1982 in Köln, ist Politikwissenschaftler. Er forscht zur Stabilität von Demokratien und befasst sich dabei besonders mit dem Einfluss populistischer Parteien in Europa. Nach Stationen in Bonn, Lüneburg, Hamburg und Duisburg hat er derzeit eine Gastdozentur an der University of Florida inne. Er ist zudem Autor bzw. Herausgeber verschiedener Studien und Fachbücher zu den Themenbereichen Staat, Parteien und Populismus.

Copyright: Zarah Devile

Hallo Marcel, schön dass du die Zeit für uns gefunden hast.

Sehr gern.

Steigen wir gleich mit dem Thema für dieses WerteJahr ein: Wie definierst du Frieden?

Aus politikwissenschaftlicher Sicht gibt es zum einen den überstaatlichen Frieden, das wäre die Abwesenheit bewaffneter Konflikte. Zum anderen gibt es domestic peace, also Frieden im innerstaatlichen Bereich. Was diesen ausmacht, ist die Abwesenheit von (politischer) Gewalt und das heißt: die Akzeptanz der Spielregeln. Ich glaube, dass Frieden das Anerkennen des politischen Gegners als legitimer Mitspieler ist. Unterhalb dieser Decke des gegenseitigen Anerkennens muss es aber Konflikte geben. Konflikt kann auch etwas Gutes sein, er kann mobilisieren und er führt früher oder später zu einer Kompromisslösung – so funktioniert unser System.
Wenn das politische Gegenüber jedoch delegitimiert wird, dann ist das friedensgefährdend, denn dann ist keine Kompromissbildung mehr möglich. Wir sehen das jetzt aktuell, unter anderem durch den Populismus.

Die bpb definiert Frieden als „eine umfassende und dauerhafte Rechtsordnung und Lebensform, bei der Wohl und Wohlstand der Bürger und Bürgerinnen oberste Ziele sind.“ Leben wir nach dieser Definition in einer friedlichen Gesellschaft?

Ja. Darin steckt der Begriff des sozialen Friedens, also die Abwesenheit von ökonomischen Verteilungskämpfen. Wir haben in Deutschland einen relativ starken Sozialstaat, der soziale Frieden ist also abgesichert und auch auf europäischer Ebene würde ich sagen, dass wir in diesem Sinne in friedlichen Gesellschaften leben. Kurzfristig – seit den 90er Jahren – gab es zwar immer wieder Bedrohungen oder Erschütterungen des sozialen Friedens. Aber langfristig gesehen, also seit dem Zweiten Weltkrieg, leben wir in höchst friedlichen Gesellschaften – zumindest in Europa. Anders sieht es in den USA, Teilen Lateinamerikas oder Afrika aus.

Ist aus dieser Perspektive nicht auch der Klimawandel eine Gefährdung des sozialen Friedens, da er den Wohlstand der Bürger:innen bedroht?

In der Tat. Der Klimawandel wird nicht nur den Wohlstand bedrohen, sondern auch Kosten verursachen. Das Ironische dabei: Die Kosten, die man jetzt in das Aufhalten des Klimawandels investieren müsste, werden auch zu Belastungen führen. Aber die Kosten des Klimawandels selbst in mehreren Jahrzehnten oder früher werden sehr viel höher sein. Der Klimawandel hat also durchaus eine gefährdende Wirkung auf den sozialen Frieden, ebenso wie seine Konsequenzen, zum Beispiel Migration – und zwar sehr starke – aus Nordafrika etwa.

Wir haben darüber gesprochen, dass Demokratie den Frieden insofern braucht, als die demokratischen Systeme darauf angewiesen sind, dass der politische Gegner nicht delegitimiert wird. Du sagtest, dass Populismus zu einer Verschärfung der Situation beiträgt und sogar friedensgefährdend sei. Was ist denn Populismus eigentlich und inwiefern gefährdet er den Frieden und die Demokratie?

Bei der Definition von Populismus halte ich mich an Cas Mudde, einen niederländischen Populismus-Forscher. In seiner Minimaldefinition bezeichnet er Populismus als dünne Ideologie. Dazu gehören zwei Dimensionen: die des homogenen Volkes und die Anti-Establishment-Haltung. Dem Volk wird ein gemeinsamer, homogener Wille nachgesagt, so eine Art volonté generale, also gleiche politische Interessen. Es wird mit aller Arten positiver Beschreibungen besetzt. Im Gegensatz dazu steht das Establishment, also die etablierten Politischen. Sie werden ebenfalls als homogene Gruppe illustriert, allerdings negativ besetzt: Sie seien korrupt, verdorben, selbstinteressiert etc. – kurz: keine legitimen Vertreter:innen des Volkes.
Populismus ist in zweierlei Hinsicht friedensgefährdend: Zum einen durch die ständige Delegitimierung des politischen Gegners und zum anderen durch ein ganz bestimmtes Verständnis von Demokratie, das dem zugrunde liegt: Wir leben in einer liberalen Demokratie, das heißt, der Volkswille ist verfassungsrechtlich geschützt. Gleichzeitig ist er aber nicht ohne Schranken. Es gibt etwa unabhängige Gerichte, Gewaltenteilung, kurz: das Volk kann die Demokratie nicht per Mehrheitsbeschluss abschaffen. Das wird auch als demokratisches Paradox bezeichnet: Die Souveränität des Volkes ist dauerhaft gesichert durch dessen verfassungsrechtliche Einschränkung. Populist:innen sehen in den Institutionen des liberalen Verfassungsstaats Instrumente des Establishments, um das Volk zu unterdrücken. Populismus delegitimiert also diese Institutionen. Das tut er zum einen medial, indem Akteur:innen sich eine Bühne verschaffen, sei es über die klassischen oder die sozialen Medien. Zum andern greifen Populist:innen, wenn sie an der Macht sind, ganz real diese Institutionen an. Nadia Urbinati (italienische Politikwissenschaftlerin, Anm. der Redaktion) sagt, Populist:innen, die an der Macht sind, werden Autokrat:innen. Das sehen wir zum Beispiel in Ungarn und Polen, wo die Gewaltenteilung über politische Reformen eingeschränkt wird.

Das ist ja jetzt ein ziemlich düsteres Bild, was mit demokratischen Systemen passieren kann, wenn Populist:innen an die Macht kommen. Was kann man denn tun, um Populismus als Bedrohung des Friedens zu verhindern?

Tja, das ist quasi die Million Dollar Question (lacht). Eine abschließende Antwort hat die Forschung  bislang nicht gefunden, aber man kann Strategien auf verschiedenen Ebenen anwenden.
Manche etablierten Parteien versuchen, durch einen inhaltlichen Rechtsruck Stimmen der rechtspopulistischen Parteien zu gewinnen. In Dänemark zum Beispiel konnten die Sozialdemokraten viele Stimmen der rechtspopulistischen Dansk Folkeparti abgreifen. Das klappt aber nicht immer, sondern hängt davon ab, ob die Wähler:innen eher rechts oder populistisch eingestellt sind. Wenn letzteres der Fall ist, können die etablierten Parteien sie auch mit einem inhaltlichen Wechsel nur schwer für sich gewinnen, weil sie „denen da oben“ grundsätzlich misstrauen.
Im Parlament kann man beispielsweise eine Art „cordon sanitaire“ errichten, indem etwa die Initiativen der Rechtspopulisten nicht unterstützt und sie in der Plenardebatte weitgehend ignoriert. In Deutschland ist das Modell hier dafür der „Schweriner Weg“, auf den sich die demokratischen Parteien in Mecklenburg-Vorpommern seinerzeit im Umgang mit der NPD einigten.
Auf medialer Ebene kann es aus strategischer Sicht sinnvoll sein, Populist:innen keine Bühne zu geben. Denn Populist:innen wollen nicht mitdiskutieren, sie wollen die Debatte sprengen. Das zeigen sie sehr deutlich, wenn sie zum Beispiel in Talkshows auftreten: der Fraktionsvorsitzende der Thüringer AfD Björn Höcke, der ein Deutschlandfähnchen über seine Stuhllehne hängt oder Alice Weidel, die Co-Vorsitzende der AfD, die einfach die Runde verlässt. Das kann aber auf normativer Ebene schwierig sein: wo setze ich die Grenze, wen ich sprechen lasse und wen nicht?

Das klingt nach einer sehr verzwickten Situation. Nun kommt dazu, dass wir seit ca. eineinhalb Jahren in der Covid-19-Pandemie stecken. Verschärft die die ganze Situation? Und inwieweit stellt vielleicht auch die Pandemie eine Gefahr für den Frieden und die Demokratie dar?

Rechtspopulistische Parteien bewerten die Pandemie und die damit verbundenen Maßnahmen unterschiedlich. Die AfD zum Beispiel gehört zu der Gruppe, die die Maßnahmen der Regierung als Aushöhlung der Demokratie beschreiben – und das teilweise mit sehr drastisch Worten. Sie framen die Pandemie nicht als gesundheitliche Krise, sondern als eine Krise der Demokratie. Die Maßnahmen sind ein Instrument der Eliten, um zu mehr Macht zu kommen, so das Narrativ. Dieses Misstrauen gegenüber der Regierung beschränkt sich jedoch auf das rechtspopulistische Spektrum. Die Mehrheit der Deutschen unterstützt die Maßnahmen, die gegen Corona getroffen wurden. Mit dem Thema kann die AfD also wenig Stimmen abgreifen.

Es gab in Deutschland aber ja auch die sogenannten Hygiene Demos, auf denen Menschen aus ganz unterschiedlichen Bereichen gegen die Maßnahmen demonstriert haben, teilweise an der Seite von nicht nur rechtspopulistisch, sondern rechtsextrem eingestellten Menschen. Und nun hat sich die Partei die Basis aus Corona Leugner:innen gegründet. Wie schätzt du das ein?

Das Problem ist, dass es in Milieus, die eigentlich für ihre moderaten Haltungen bekannt sind, Strömungen gibt, die diese anti-wissenschaftlichen Positionen unterstützen. Plötzlich stellt die Corona-Pandemie und deren Einschätzung Anknüpfungspunkte zwischen liberalen Milieus und rechten Positionen her. Und das ist eine ganz interessante Entwicklung, die ich noch nicht so richtig einschätzen kann. Das kann je nach Verlauf der Pandemie natürlich noch zu gesellschaftlichen Konflikten führen. Ich bezweifle aber, dass das der AfD nützt, denn diese ist mittlerweile viel zu extrem, um breite Anschlussmöglichkeiten zu bieten.

Wie kann die Politikwissenschaft zu einer friedlicheren Gesellschaft beitragen?

Ich glaube, die Wirkung, die Politikwissenschaft haben kann, ist eine mittelbare: Sie kann zum Verständnis von Komplexität beitragen und das führt letztendlich zu einer höheren Akzeptanz des Systems. Denn jedes gesellschaftliche Zusammenleben ist kompliziert.
Zum anderen können Politikwissenschaftler:innen aus ihrem Turm heraustreten und die Diskussion und Konfrontation suchen. Dabei müssen sie transparent bleiben, mit welchen Konzepten sie arbeiten, wovon sie ausgehen. Das ist natürlich ein schwieriges Unterfangen, aber ich glaube, dass das ganz wichtig ist.

Vielen Dank für das Gespräch!

Interview: Gina Tomaszewski