Frieden ist organisch
Dr. Tanja Kasischke beleuchtet das PNJ-WerteJahr „Frieden“
Nur noch wenige Tage, dann ist das erste WerteJahr des Pressenetzwerks für Jugendthemen Geschichte. Wir haben den Frieden zur Diskussion gestellt und ihn dafür von vielen verschiedenen Seiten beleuchtet. Dr. Tanja Kasischke, Vorsitzende des PNJ und Mitinitiatorin der WerteJahre-Idee, beschreibt ihren ganz persönlichen Blick auf das leider gar nicht friedliche Jahr 2021.

Der Versuch, meinen Frieden zu machen mit dem gleichnamigen WerteJahr beginnt mit dem Blick zurück am Ende des Jahres – und noch etwas weiter: auf den Frühling 2019. Ich sitze mit zwei Freunden in einem Berliner Café. Der eine ist zu Besuch aus Brüssel, der andere ist auf der Durchreise nach Westfalen, ein Weggefährte aus dem Studium, Lehrer geworden. Er hat über die Weimarer Republik promoviert und vergleicht, wie wir am Tisch sitzen und das Gespräch auf die bevorstehende Europawahl kommt, die gegenwärtige gesellschaftliche Situation mit der Atmosphäre Ende der 1920er Jahre: Die Mitte dünnt aus, radikale Ränder gewinnen an Profil, gegenseitige Schuldzuweisungen nehmen zu. Der soziale Frieden taumelt. Der Brüsseler Freund sagt, das Bekenntnis zu Europa brauche einen neuen Gestaltungsimpuls, einen Konsens, etwa den Klimaschutz. Der Lehrer sagt: „Der Klimawandel ist für die Menschen noch nicht existentiell genug. 1945 hatte die Welt den Krieg durch. Danach funktionierte sie erst wieder, indem man zusammenstand. Das war allen klar.“
Im Jahr 2021 habe ich häufig an dieses Gespräch denken müssen, nicht nur, weil im Café zu sitzen so selten geworden ist. Vor allem ging mir der Konsens Europas nicht mehr aus dem Kopf, der scheinbar noch immer nicht existentiell genug ist. Besonders, wenn ich Bilder der EU-Außengrenze in Belarus sehe. Wie groß muss die Not der Menschen dort werden, dass der Länder Kräftemessen beendet ist und ein humanitäres Zusammenstehen möglich wird?
Si vis pacem para bellum. Dieses lateinische Sprichwort bedeutet sinngemäß: „Wer Frieden sucht, der rüste sich für den Krieg.“ Das ist kein Abheben auf apokalyptisches Säbelrasseln, sondern die Beobachtung, dass Frieden und jeder gesellschaftliche Konsens, auf dem Frieden aufbaut, ein Ablaufdatum haben, wenn nicht dafür gestritten und darum gekämpft wird. Konstruktiv, in guter Absicht. Unser WerteJahr des Friedens läuft zeitlich zwar aus, die Aufgabe, Frieden laut zu denken, bleibt. Uns als Journalisten. Und als Menschen. Gemeint ist kein Durchdeklinieren von Friedensprozessen und wie sie gesellschaftliche Entwicklungen katalysiert und transformiert haben – oder hätten, etwa wenn Israels früherer Premier Jitzchak Rabin im November 1995 nicht Opfer eines Attentats geworden wäre. Kurz zuvor war eine seiner letzten Aussagen gegenüber einem Reporter die, dass sich das israelische Volk den Frieden wünschte. Und er, der Staatschef, sei nur derjenige, der den Wunsch der Menschen qua Amt vertraglich verbindlich machte. Damals war der Nahost-Friedensprozess konsentiert wie nie. Frieden ist nichts Systemisches, sondern ein Wert, auf den sich Menschen verständigen. Frieden ist organisch. Frieden ist die Aufgabe aller und sie stellt sich jeder Generation neu. Die „Fridays for Future“ gehen sie aus Richtung des Klimaschutzes an.
Friedensarbeit ist, wenn Menschen Werte laut denken, die für eine Gemeinschaft Gutes bedeuten. So entstand 1948 die allgemeine Erklärung der Menschenrechte, so entstand im darauffolgenden Jahr unser Grundgesetz. Menschen zogen die richtigen Lehren aus Krisenmomenten und brachten sie in eine verbindliche Struktur. Heute reden alle vom Empowerment, aber Vorangehen ist relativ aus der Mode gekommen. Hoffentlich nicht, weil wir in Europa die längste Friedensperiode unserer Geschichte erfahren. Denn Frieden hält Neues aus. 2020 und 2021 hatten wir den Konflikt gegen eine Krankheit auszuhalten, der hauptsächlich aufgezeigt hat, wie fragil unser Miteinander geworden ist, und dass Bürgerrechte plötzlich zur Disposition stehen, wo Spaltung irreversibel zu werden droht. „Demokratie stellt nicht soziale Distanz her, Demokratie will soziale Distanz überwinden“, mahnte der Journalist und Kolumnist Heribert Prantl bereits 2020 in einem Essay für das Magazin „Mitbestimmung“. Ich mache gerne meinen Frieden damit.
Si vis pacem para bellum ist ein kluger Rat. Streitkultur ist eine wichtige Eigenschaft von Friedensarbeit. Streit hat in den meisten Fällen ein lehrreiches Fazit. Zum Beispiel, dass der Auslöser nicht die Ursache war und der Frust irgendwo tiefer sitzt. Die ehrliche Auseinandersetzung sorgt im Moment des Konflikts für faire Bedingungen. Eine davon lautet: Niederlage muss ohne Gesichtsverlust möglich sein. Toleranz und Streitkultur gehen Hand in Hand. Friedensarbeit ist keine Folge staatlicher Souveränität, sondern ihre Bedingung.
Text: Dr. Tanja Kasischke
Beitragsfoto: Graffitiwand in Prag, Aline Dassel auf Pixabay
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