Friedensprojekt Europa? – Die europäischen Werte und der Fall Frontex
Ein Kommentar von Gina Tomaszewski

Vor allem junge Menschen kennen es nicht anders: Freies Reisen zwischen den europäischen Ländern ohne Grenzkontrollen, die Möglichkeit, mit dem Förderprogramm ERASMUS+ ein Semester an anderen europäischen Universitäten absolvieren, kostenloses Telefonieren dank innereuropäischer Netz- und Internettarife, eine gemeinsame Währung in der Eurozone. Das sind nur ein paar Beispiele dafür, wie die EU uns allen das Leben leichter macht. Für die meisten fühlen sich diese Dinge selbstverständlich an, doch dahinter steckt ein Mammutprojekt, das bereits seit sieben Jahrzehnten andauert: die Europäische Union.
Entstanden ist sie ursprünglich als Wirtschaftsabkommen einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Ziel war es, den Frieden zwischen den europäischen Ländern zu sichern. Wer wirtschaftlich voneinander abhängig ist, wird keinen Krieg gegeneinander führen, so der Gedanke dahinter. Und so trat 1952 die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) in Kraft, einer der Vorläufer der EU. Das Wirtschaftsabkommen hatte damals sechs Mitglieder: Deutschland und Frankreich, auf deren Initiative das Projekt zurückgeht, sowie Belgien, die Niederlande, Luxemburg und Italien. Seitdem hat sich der Zusammenschluss immer weiterentwickelt. Mittlerweile hat die EU 27 Mitgliedsstaaten und Kompetenzen in verschiedenen politischen Bereichen, von einer gemeinsamen Außen- sowie Handelspolitik bis hin zu Teilkompetenzen, beispielsweise bei der Agrarpolitik. Dank des Schengen-Abkommens sind die Grenzen zwischen den Ländern offen. Die EU verfügt über einen gemeinsamen Binnenmarkt, eine gemeinsame Währung – zumindest in der Eurozone – und gemeinsame Werte. Dazu gehören die Würde des Menschen, Freiheit, Demokratie, Gleichstellung, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Klingt erstmal ideal – oder?
Das Problem: Die Grundidee der europäischen Gemeinschaft ist eine ideelle. In der Realität bilden vor allem wirtschaftliche Vorteile für die Mitgliedsstaaten den kleinsten gemeinsamen Nenner. Also geht es hauptsächlich um die Binnenbeziehungen.
Die Situation geflüchteter Menschen auf dem Mittelmeer und an der Grenze von Belarus nach Polen, illegale Push-Backs an der kroatischen Grenze – die jüngsten Ereignisse suggerieren, dass die Werte der EU nicht allgemein gültig sind. Neben innereuropäischen Konfliktpunkten stoßen die europäischen Werte außerhalb von der EU wortwörtlich an ihre Grenzen. Insbesondere bei der Migrationspolitik finden die europäischen Länder keine Einigung. Bisherige Versuche, wie die diversen Dublin-Abkommen – der Versuch eines fairen Verteilungsschlüssels von Geflüchteten auf die europäischen Länder – sind in der Praxis gescheitert und belasten vor allem die Staaten an den EU-Außengrenzen. Da ein Konsens der Mitgliedstaaten fehlt, wie mit der Situation umgegangen werden soll, wird eine härtere Linie beim Grenzschutz der europäischen Außengrenzen gefahren – auf Kosten einiger europäischer Werte.
Frontex als Beispiel für die Ambivalenz der europäischen Werte
Frontex wurde 2004 gegründet und ist die europäische Agentur für Grenz- und Küstenwache. Die Agentur wurde in den letzten Jahren allerdings vor allem durch Negativschlagzeilen bekannt. Immer wieder erheben Menschenrechtsorganisationen Vorwürfe gegen Frontex, Grundrechte zu verletzen. Recherchen mehrerer Zeitungen stützen den Verdacht: Enthüllungen unter anderem vom SPIEGEL wiesen auf die illegale Rückführung von Migrant:innen hin – sogenannte Push-Backs – und lieferten außerdem Hinweise, dass Frontex mit der lybischen Küstenwache zusammenarbeitet. Diese verstößt immer wieder gegen Menschenrechte: In lybischen Aufnahmelagern werden Menschen gefoltert. Auch unterlassene Hilfeleistung und illegale Treffen mit inoffiziellen Waffenlobbyist:innen gehören zu den Vorwürfen. Mittlerweile wird EU-intern gegen die Agentur ermittelt, durch die Korruptionsbehörde OLAF und durch eine eigens eingerichtete Arbeitsgemeinschaft.
Aber was ist eigentlich die Aufgabe von Frontex? Offiziell soll die Agentur den Grenzschutz an den europäischen Außengrenzen verstärken und illegale Machenschaften verhindern, indem sie nationale Grenzbehörden unterstützt. Von Seiten der EU heißt es: Frontex unterstütze bei der Verwaltung der EU-Außengrenzen und trage zur Harmonisierung der Grenzkontrollen bei. Dabei sind der Agentur allerdings klare Grenzen gesetzt: Frontex darf keine Menschenrechtsverletzungen billigen oder gar selbst durchführen. Sollte sie beispielsweise illegale Push-Backs oder unterlassene Hilfeleistung bei nationalen Grenzbehörden beobachten, muss sie diese Vorfälle sofort melden. In der Praxis scheint das aber nicht zu passieren.
Ein möglicher Grund dafür ist die anscheinende Überforderung der Agentur. Seit ihrer Gründung ist Frontex rasant gewachsen. Allen Vorfällen zum Trotz wurde Frontex in den letzten Jahren weiter aufgestockt: Seit ihrer Gründung 2004 hat sich das Budget fast verzehnfacht. Waren es damals noch sechs Millionen Euro, stehen Frontex 2021 fast 550 Millionen Euro zur Verfügung. Zum Vergleich: Die europäische Polizeibehörde Europol hatte 2020 ein Budget von rund 155 Millionen Euro zur Verfügung, also ungefähr ein Viertel von Frontex. Bis 2027 soll die Agentur auf insgesamt 10.000 Mitarbeiter:innen anwachsen. Damit wäre sie die größte Agentur der EU. Diesem überproportionalen Wachstum scheint die Agentur nicht gerecht werden zu können. Das sieht auch der europäische Rechnungshof so: Die Institution kritisierte Frontex wegen Organisationsdefiziten. Es deutet vieles darauf hin, dass die Agentur schlicht überfordert ist. Dennoch werden jährlich mehr Gelder in die Agentur gepumpt – ungeachtet der massiven Kritik an der Agentur.
Was also will die EU mithilfe von Frontex erreichen? Das Budget für Frontex hat insbesondere nach 2015 einen enormen Sprung nach oben gemacht. Das Jahr, in dem die sogenannte „Flüchtlingskrise“ die europäische Solidarität im wahrsten Sinne des Wortes „an ihre Grenzen gebracht“ hat. Die steigende Budgetierung der Agentur deuten darauf hin, dass die oberste Priorität ist, Migration nach Europa so weit wie irgend möglich zu verhindern. „2015 darf sich nicht wiederholen“ ist längst zu einer Chiffre geworden, um ein hartes Vorgehen in der Migrationspolitik zu rechtfertigen. Immerhin geht es hier um den innereuropäischen Frieden. Doch um welchen Preis?
Die EU ist ein Projekt mit großem Potenzial. Die europäische Integration hat viele Länder in dem Ziel einer friedlichen und gemeinschaftlichen Welt vereinigt. Doch solange innereuropäische Interessen über die Sicherheit von Nicht-Europäer:innen gestellt werden, bleibt das ambitionierte Friedensziel schwierig. Die EU muss alle ihre Werte und selbstgesteckten Ziele konsequent verfolgen. Solange vor allem wirtschaftliche Interessen eine Rolle spielen, kann die europäische Wertegemeinschaft nicht in der Form greifen, wie sie sollte. Deshalb braucht es eine gemeinsame Linie in der europäischen Migrationspolitik, die auf allen europäischen Werten beruht. Dazu gehören geordnete Aufnahme- und Asylverfahren, die jedem geflüchteten Menschen zustehen. Frieden in Europa kann nur gemeinsam gedacht werden – und muss global verwirklicht werden.
Kategorien