Spalte und herrsche
Soziale Medien haben Politik zu einer Gratwanderung zwischen Amt und Würde werden lassen, das trifft vor allem die Frauen
Bundesfamilienministerin Anne Spiegel hat ihr Amt zur Verfügung gestellt. Die Ereigniskette die zu ihrem Rücktritt führte, veranschaulicht, welche Einschränkungen eine konstruktive Debattenkultur mittlerweile erfährt: Spalte und herrsche. Die sozialen Medien haben die Sphären von öffentlicher Rolle versus persönliche Existenz so aufgeweicht, dass klare Grenzziehungen als No Gos verstanden werden. Das ist eine gefährliche Gratwanderung zwischen Amt und Würde. In den meisten Fällen trifft sie Frauen.

Dass eine politische Mandatsträgerin (bzw. zwei, ebenso Spiegels Kollegin im Umweltressort Nordrhein-Westfalens, Ursula Heinen-Esser) gelogen hat, lässt tief blicken. Niemand wagt, fehlbar zu sein. Anne Spiegel aber hat Fehler gemacht. Diese hat sie eingeräumt. Die Toten von der Ahr bringt das leider nicht zurück, doch es ermächtigt die (Über-)Lebenden, ihr zu vergeben. Reue ist etwas Wertvolles. Die Fähigkeit zur aufrichtigen Entschuldigung ist eine Königsdisziplin des Menschseins. Sie entsteht aus unserem Verständnis von Würde, unserer eigenen und der des Gegenübers. Deshalb nehmen Entschuldigung und Vergebung den Kommunikationsfaden wieder auf. Genau das hat Anne Spiegel versucht, und ja, obwohl sich über den geeigneten Zeitpunkt trefflich streiten lässt.
Den Rollenkonflikt hat ihr Rücktritt jedenfalls öffentlich gemacht. Ihre Erklärung vor der Presse hat Spiegel unter großem Druck abgegeben, so großem Druck, dass sie Dienstliches und Privates zusammengoss, was sie einerseits verzweifelt und unprofessionell wirken ließ, andererseits Zeugnis davon ablegt, welche (zusätzlichen) Steine qualifizierten Frauen im Weg liegen, wenn sie einen männerdominierten Weg gehen oder zu gehen beabsichtigen. Amt sticht Würde. Gesundes Karrierebewusstsein stellt den Menschen hintenan, gesundes Familienbewusstsein auch. Geschlechtergerechtigkeit kommt als Büchse der Pandora noch dazu. Toxisch, denn auch MinisterInnen brauchen Urlaub vom Amt. Sie sind Menschen. Das bedarf keiner Rechtfertigung. Dass Twitter und Co. der Person Anne Spiegel einen Strick daraus drehen, ist würdelos. Leider hat Spiegel die Hetzjagd selbst angefacht, indem sie die Corona-Belastung ihrer Familie ins Feld führte. Denn gemessen an ihrer Funktion halten sich Mitleid und Verständnis erwartbar in Grenzen. Eine Ministerin hat (monetär) viel bessere Ressourcen, die Corona-Kollateralschäden ihrer Kinder zu tilgen, als die 14 Millionen Eltern Minderjähriger in Deutschland, die das nicht haben.
Macht und Empathie gehen schlecht zusammen. Das ist ein Politikerinnen-Problem, dem die Gesellschaft über das Vehikel sozialer Medien noch eins draufgibt. Als Schleswigs-Holsteins Familienministerin Karin Prien im Februar 2022 eine umsichtige Lockerung der Corona-Maßnahmen an Schulen laut denkt, um Kinder und Jugendliche nicht länger ein „Klima der Angst“ aufzubürden, entlädt sich die Wut der Maßnahmenbefürworter auf Twitter. Priens Säumnis ist, ihre Aussage an menschlicher Würde orientiert zu haben, nicht an der Macht.
Umgekehrt, wenn (männliche) Politiker lügen, Posten schachern oder sich auf Kosten anderer bereichern, zwinkern sie das konsequent weg und kaum einer beschwert sich. Weil Männer in der Lage sind, Funktion von Person abzukoppeln, im Gegensatz zu den von Empathie geleiteten Kolleginnen, die statt des Augen-zu-und-durch-Kurses einen Schritt zurücktreten. Und noch einen. Und noch einen. Bis zum Rücktritt.
Es gibt Ausnahmen von der Regel: Angela Merkel hat die Trennschärfe zwischen Funktion und Person konsequent respektabel verkörpert. Franziska Giffey hat es (nach der Rücktrittserfahrung als Familienministerin 2021) schnell gelernt. Annalena Baerbock ist auf dem besten Weg. Umgekehrt war Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn einen Moment lang Mensch, als ihm während der Pandemie die Aussage entschlüpfte: „Wir werden einander viel zu vergeben haben.“ Hauptsache, es ist nicht das Menschsein.
Text: Dr. Tanja Kasischke
Kategorien