Zum Inhalt springen

Ego, Alter!

Wir sind gut organisiert und handeln mit Verstand, dafür ist es um die Sprachfähigkeit weniger gut bestellt: Über Missverständnisse im Umgang mit Liebe und Würde – und wie das Theater sie löst

Die Frau liebt – und der Mann hält sich für unwürdig. Womit er nicht rechnet, ist die Beharrlichkeit seiner Partnerin. Lessings Klassiker „Minna von Barnhelm“ ist zeitlos (und wertvoll), weil er verdeutlicht: Je tiefer sich die Gesellschaft in unsere Intuition eingräbt, desto schwerer hat es die Liebe, in Würde zu bestehen; und nicht gegen sie ausgespielt zu werden. Oder ist alles ein Missverständnis?

"Unwürdig? Nicht dein Ernst, Tellheim?" In der "Minna von Barnhelm" am Deutschen Theater Berlin muss die Titelheldin (Natali Seelig, r., mit Seyneb Saleh) noch eine Schippe Gelassenheit drauflegen bis zum Happy End. Ihre Sprache findet sie zum Glück schnell wieder.
„Unwürdig? Nicht dein Ernst, Tellheim?“ In der „Minna von Barnhelm“ am Deutschen Theater Berlin muss die Titelheldin (Natali Seelig, r., mit Seyneb Saleh) noch eine Schippe Gelassenheit drauflegen bis zum Happy End. Ihre Sprache findet sie zum Glück schnell wieder.

Sprachfähigkeit ist eine Kompetenz, um die wir dank des Theaters nicht bangen müssen. Es inszeniert zwischenmenschliche Kommunikation. Auch, wenn auf der Bühne zunächst die nonverbale Äußerung zu Wort kommt: Tellheim liebt Minna, weil er ertappt wirkt, für Sekunden die Fassung verliert, mit sich ringt, ehe ihn das Ego wieder in die Uniform gesellschaftlicher Konvention zwängt. Bei „Minna von Barnhelm“, neu in der aktuellen Spielzeit am Deutschen Theater Berlin, zieht das Korsett der Protagonistin Fäden; ein Hinweis darauf, dass weibliche Intuition besser damit klarkommt, dass Liebe unangepasst ist: „Man muss uneigennützig lieben“, erklärt Minna. Im Moment, da die Gesellschaft ausdifferenziert ist und Geld, Markt und Angebot Maß aller Dinge sind, ist die Position riskant. Minna weiß das, liebt dennoch und baut dem irrlichternden Tellheim so eine Brücke. Liebe und Würde sind wieder auf derselben Seite am Ende der gelungenen Aufführung.

Das Schauspiel ist 250 Jahre alt, seine Aussage häutet sich aber mit jeder Generation neu. 2022 lautet sie: Die moderne Gesellschaft ist strukturversessen und regelgläubig, Gefühle sind zweckgebunden. „Vielleicht würde mir Ihr Mitleid gewähret haben, was mir Ihre Liebe versagt“, sagt Minna gegenüber Tellheim im Verdruss. Mitleid (anstelle von Liebe) bestätigt das männliche Ego als kleinste Einheit der Machtverhältnisse. Die Inszenierung bezieht sich darauf, indem sie die Figuren wie Puppen darstellt, stark überzeichnet, mit wächsernen Gesichtern und teils ungelenken Bewegungen. Minna (der Name bedeutet im Althochdeutschen übrigens „die Liebe“) spielt mit. Sie überlistet Tellheim zur Preisgabe seiner wahren Gefühle. Dafür muss sie sich kleinmachen. So geht es mit der Liebe. Sie setzt sich dem Risiko aus, abgelehnt zu werden. Hier fließt Gotthold Ephraim Lessings (1729-1781) christliche Prägung ein in die Ansprüche der Aufklärung, den Verstand a priori zu setzen. Der Rest ist Geschichte.

Die führt dazu, dass Würde und Liebe im Heute voneinander abgekoppelt sind. Der Mensch sucht und definiert sich andere Kraftquellen, um sich würdig zu fühlen (oder eben nicht). Im Stück ist der junge Militär Werner, ein Offizier aus Tellheims Regiment, die personifizierte Selbstoptimierung und Ichbezogenheit; bis ihn Minnas Kammerzofe dazu zwingt, bedingungslos in sich hineinzuhören. Am Ende bringt es Werner noch vor seinem konventionslahmgelegten Vorgesetzten fertig, Gefühle in Worte zu fassen. Tellheim ringt eine weitere Weile mit seinem Ego, ehe auch er sich bekennt. Es lebe die wiedererlangte Sprachfähigkeit. Lessing hegte den Wunsch, sein Publikum „möge mit dem Verstand lachen“. Erfüllen wir ihm diesen doch.

Text: Tanja Kasischke
Beitragsfoto: Arno Declaire