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Gerechtigkeit und die UN-Agenda für nachhaltige Entwicklung

Exakt dort, wo heute das Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York steht, richtete im frühen 17. Jahrhundert die niederländische Kolonialverwaltung (früher: New Amsterdam) die ersten Sklavenquartiere Nordamerikas ein. An diesem historisch so vorbelasteten Ort am East River verhandelten und verabschiedeten vier Jahrhunderte später Vertreter*innen von Staaten eine Agenda, in der der Aspekt der Gerechtigkeit mehrfach zentral hervorgehoben wurde. Im Jahr 2015 beschlossen die 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen einstimmig die UN-Agenda 2030.

Das UN-Hauptquartier in New York
Foto: UN photo

Mit der Zielformulierung „Gerechtigkeit“ werden in diesem 35-seitigen Dokument Gesellschaften beschrieben, die frei von Angst sowie Gewalt sind und in denen die Bedürfnisse der Schwächsten erfüllt werden. Mit den Entwicklungszielen zur Ungleichheitsreduzierung (SDG 10) und eines gleichen Zugangs zur Justiz (SDG 16) heben die Staaten zwei Gerechtigkeitsaspekte gesondert hervor. Denn ursächlich für Ungerechtigkeit seien Ungleichheiten.

Mit der Formulierung „für alle“ sind dutzendfach Stellen in der UN-Agenda zu finden, die auf bestehende Ungleichverhältnisse hinweisen. Extreme Armut bedürfe es etwa für alle zu beenden sowie Bildung und Gesundheit für alle zu erreichen. Gleich mehrfach wird darauf hingewiesen, dass es Arbeit, Wirtschaftswachstum und Wohlstand für alle Menschen geben soll. Diese Beispiele verdeutlichen bereits, dass die Staaten der Welt eine sehr konkrete Vorstellung über eine gerechte Lebensweise aller Menschen haben. Doch inwiefern wird die Vorstellung politischer Eliten von Einzelstaaten gegenüber der Weltgesellschaft gerecht?

Um diese Frage zu beantworten, braucht es mindestens zwei Perspektiven: Dabei handelt es sich um Aspekte der räumlichen und temporalen Gerechtigkeit. Die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen beanspruchen bereits mit der Etikettierung ihrer Vorstellung (die Entwicklungsziele werden als „globale“ Ziele vermarktet) einen weltweiten Raum, sodass der Maßstab einer globalen Gerechtigkeit hier angesetzt werden muss. Zudem umfasst Gerechtigkeit auf der Ebene der Vereinten Nationen weit mehr als nur gegenwärtige Ungleichverhältnisse in einem zeitlosen Raum. Daher bedarf es miteinzubeziehen, wie diese gesellschaftlichen Verhältnisse historisch gewachsen sind und sich weiter auf die Zukunft auswirken werden.

Mit Blick auf die räumliche Dimension von Gerechtigkeit wird deutlich, dass hinter den Vereinten Nationen ein System von Einzelstaaten steht. Deren nationale Politiken, allen voran durch Prozesse der Andersmachung und Abgrenzung, verhindern eine Gleichwertigkeit aller Menschen. Besonders gewichtig ist dies mit Blick auf die Einschränkung von grenzüberschreitender Mobilität, die der entscheidendste Faktor für soziale Mobilität in der Weltgesellschaft ist. Staatsgrenzen verhindern globale soziale Gerechtigkeit. Nicht zufällig sind sie die Staaten wie ihre Grenzen oftmals Relikte imperial-kolonialer Denkweisen.

Aber auch im „Effekt der Konkurrenz“ zwischen Einzelstaaten sind negative Konsequenzen des gegenseitigen Ausspielens und der bewussten Benachteiligung anderer festzustellen. Strukturelle Abhängigkeiten ermöglichen seit Jahrhunderten ein System der Ausbeutung zwischen dem Globalen Süden und Norden. Eine ungleiche Wertschöpfung ist dabei an Primärgüterindustrien, Handelsabkommen und Staatsverschuldungen gekoppelt. Gestützt wird dieses System durch Prozesse der Aneignung mittels etwa Kolonialisierung, Sklaverei und Umweltzerstörung. Die Weltwirtschaft ist schlicht kein gerechter Markt, sondern wird maßgeblich durch ungleiches Kapital bestimmt.

Darüber hinaus ist der, in der UN-Agenda anvisierte Wohlstand mit Blick auf sozial-ökologische Ausbeutungsprozesse und besonders den menschen-gemachten Klimawandel kein wünschenswertes Ziel. Diese Art von Wohlstand zerstört bereits heute vielerorts die Grundlage menschlichen Zusammenlebens. Zur Aufrechterhaltung des Wohlstands, auch dessen in Deutschland, braucht es hierbei die dafür auszubeutenden Menschen und die dafür zu zerstörende Umwelt. Drei Planeten Erde und über 500 Milliarden(!) Sklav*innen wären notwendig, wenn alle es dem durchschnittlichen Menschen in Deutschland gleichtun. Eine Welt, in der alle gleichermaßen im Wohlstand Deutschlands leben, ist demnach weder möglich noch erstrebenswert. Solange Wohlstand an Materiellem gekoppelt ist und ein quantitatives Mehr an Wirtschaftswachstum gefordert wird (SDG 7, 8, 9), werden heute tatsächlich nachhaltige Lebensweisen wie eine Subsistenzwirtschaft abgewertet, benachteiligt und schrittweise verunmöglicht.

Mit Blick auf die temporale Dimension von Gerechtigkeit ist eine Gleichmachung aller Menschen ungerecht gegenüber vorausgegangenen Ungleichheiten. In der UN-Agenda vom östliche Ufer Manhattans werden trotz der lokalen Historie die Aspekte des Kolonialismus und der Sklaverei nahezu vollständig ignoriert. Gerade die Wiedergutmachung im Sinne einer Bevorteilung historisch Benachteiligter wird in der Agenda ausgelassen. So werden Grundfreiheiten für alle gleichermaßen gefordert, ganz gleich ob beispielsweise Männer sich über Jahrhunderte durch die strukturelle Benachteiligung von anderen Geschlechtern eine bessere Ausgangsposition verschaffen konnten und verschiedene Formen daraus gewonnenen Kapitals nun zu ihrem Vorteil einsetzen können. Gleiches gilt etwa für die Regierungen des Globalen Nordens gegenüber dem Süden, Weißen Menschen gegenüber Schwarzen, Indigenen und People of Color, transnationale Konzerne gegenüber Kleinbäuer*innen sowie der Bourgeoisie gegenüber dem Proletariat. Die Liste ließe sich noch vielfach ausbauen. Nachhaltige Entwicklung kann demnach niemals linear in die Zukunft gerichtet sein. Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist ein wesentlicher, konstanter Bestandteil von Nachhaltigkeit ohne eine „Entwicklung“.

Darüber hinaus wird eine Befriedung gegenwärtiger Gesellschaften im globalen Norden durch massive Ausbeutungsprozesse an zukünftig lebenden Menschen vollzogen. Mögliche Einschränkungen hinsichtlich des Konsums etwa am Beispiel Energie, Ernährung oder Mobilität führen zu tumultartigen Reaktionen, sodass keine Regierung ihre Bevölkerung im Rahmen der planetaren Verträglichkeit regulieren würde. Mensch stelle sich hierzulande vor, es gäbe ein Gesetz, das nur einen Transatlantikflug alle zehn Jahre oder ein gewisse PKW-Streckenlänge pro Person erlaubt. Entscheidend für nationale Politik ist nicht Gerechtigkeit, sondern der Machterhalt etwa durch die nächste Wahl mit Mitteln der Diskriminierung gegenüber Andersgemachten. Das UN-Prinzip der nationalen Souveränität hält somit auch die Ausbeutung von zukünftig lebenden Menschen aufrecht.

Zusammenfassend würde globale Gerechtigkeit im Kontext einer Nachhaltigkeitsagenda bedeuten, dass der Lebensstil aller Menschen innerhalb der planetaren Grenzen bleibt, dass durch Ausgleich sowie Entschädigung eine Verantwortung gegenüber begangenen sozialen Ungleichheiten übernommen wird und dass zukünftig lebende Menschen zumindest eine gleichwertige, wenn nicht lebenswertere Umgebung vorfinden. Zumindest in Teilen finden sich hierzu anschlussfähige, wenngleich unscharfe und vielfach in sich widersprüchliche Formulierungen in der UN-Agenda wieder. Eine zielführende Umsetzung scheitert jedoch völlig am Verharren auf Einzelstaatlichkeit und der daraus resultierenden Leerstelle einer globalen Politik.

Konkret könnte globale Gerechtigkeit damit erreicht werden, dass soziale Ungleichheiten fortlaufend im Sinne einer Gleichstellung anstelle einer Gleichmachung regulativ ausgeglichen werden und umweltzerstörerisches Handeln weltweit regulativ verunmöglicht wird. Die naheliegendsten Mittel hierzu liegen jenseits von Einzelstaatensystemen: Eine globale Besteuerung (etwa von Erbe, Finanztransaktionen, Handel und Vermögen), globale Bewegungsfreiheit, globale soziale Sicherung, globale politische Teilhabe und ein globaler Umweltschutz.

Eine Globalisierung der politischen Regulierung steht im Widerspruch von einzelstaatlichen Interessen wie den gegenwärtigen Vereinten Nationen, sodass hier allen voran die drei transnationalen Korrektive des Journalismus, der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft gefragt sind. Gemeinsam können diese eine globale Perspektive gestalten. Die Arbeit dieser Korrektive liegt zudem darin, den Druck auf die Vereinten Nationen soweit zu erhöhen, dass diese sich zu einem weltgesellschaftlichen Regulativ jenseits von Einzelstaaten reformieren.

Autor: Dr. Albert Denk arbeitet am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin und ist Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. (DGVN).

Weiterführende Informationen:

Denk, Albert (2023): Nachhaltige Entwicklung und globale Ungleichheit. Eine wissenspolitologische Studie über die Entwicklungsagenda der Vereinten Nationen. Baden-Baden: Nomos.

Denk, Albert (2021): Dekolonialität – Eine Leerstelle in den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen. In: J. Schöneberg & A. Ziai (Hrsg.) Dekolonisierung der Entwicklungspolitik und Post-Development Alternativen. Baden-Baden: Nomos.

Denk, Albert (2021): Ungleichheiten erkennen, Ungerechtigkeiten reduzieren. Auf: Debattenblog der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen, 03.05.2021.