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Cornelia Becker

Die Schriftstellerin und für Kultur und Bildung engagierte Tausendsassarin Cornelia Becker hat sich sofort für das WerteJahre-Projekt begeistert. Aus dem umfangreichen Fundus ihrer Romane, Erzählungen, Hörstücke und Lyrik stellt sie für das WerteJahr Frieden ihren Text „Turmgedächtnis“ hier vor, publiziert in: Eintritt frei, Cornelia Becker, Achter Verlag, 2011.

Cornelia Becker, 1957 in einem Dorf in NRW geboren. Frühe Lehrjahre in Spanien; Fremdenführerin, Tankwartin, Übersetzerin von Gebrauchstexten, Barbesitzerin. Lebt heute mit ihrer Familie in Berlin. Freie Mitarbeiterin in Kultur- und Bildungseinrichtungen. Schreibt Romane, Erzählungen, Hörstücke und Lyrik. Publikationen in Zeitschriften, Anthologien und Hörfunk. Die Romane und Erzählungen erschienen in verschiedenen Verlagen. Sie erhielt Auszeichnungen und Stipendien. (Berliner Arbeitsstipendium für AutorInnen/ Holozän,ETH Zürich/ Erster Preis in der Sendung Zeitpunkte, etc.) Im vergangenen Dezember wurde ihr Text Turmgedächtnis auf der Lesebühne: „Der Feuerpudel“  für den 2. Preis ausgewählt. Übersetzungen und Veröffentlichungen ihrer Texte in verschiedenen Sprachen.

Seit Januar 2019 veröffentlicht sie regelmäßig bei DenkZeit, PonderingTime, PensoTiempo. Aktive Mitarbeiterin des „The Poetry Project“ (ein Poesieprojekt für junge geflüchtete Menschen) und des POEDU, ein von Kathrin Schadt initiiertes Projekt zu Corona-Zeiten für Kinder und Jugendliche.

Turmgedächtnis

I

Und dann hörten wir ihre Stimme.

Ihre Stimme zuerst. Historischer Trödel, Lumpen … Und schon sahen wir sie, oder zunächst ihren Einkaufswagen, beladen mit Plastiktüten: Erinnerungen aus dem Papierkorb, Plunder, Müll der Geschichte … Und sie, ein dürrer weißer Zwerg dahinter. Sie lachte und winkte uns zu. Wenn ihr wollt, bringe ich euch nach oben.

Und wir folgten der Alten in den Turm, sie ging uns voraus, die Treppen hinauf, wir drehten uns höher und höher in das enge Bauwerk hinein, das einmal hundertdreizehn Meter hoch gewesen war und damit der höchste Turm dieser Stadt, die wir nun unter uns zurückließen, nur ihre Geräusche brandeten noch eine Weile heran. Lachend zuerst, tippten wir uns an die Stirn, wie verrückt die Alte doch war, und kicherten über unsere eigene Verrücktheit und unseren Hunger auf wildes Leben. Welches Abenteuer, ihr in diese Ruine zu folgen, uns ihrer Stimme anzuvertrauen, die uns, immer vorauseilend, mit sich hinaufzog in das baufällige Wrack, vor hundertfünfzehn Jahren errichtet, der höchste Turm der Metropole, der zu einer alten Kirche gehört hatte, wie wir wohl wussten, und den die heutigen Bewohner dieser Stadt den hohlen Zahn nennen. Wir schraubten uns langsam hinauf, verwundert über die Steinstufen unter unseren Füßen, schief und ausgetreten zwar, von Tausenden und Abertausenden hoffnungsvoller Schritte der Besucher vor uns, doch fest und sicher, und die uns wegtrugen von den brodelnden Geräuschen der Stadt. Und die Alte, uns immer lachend, leichtfüßig voraus – hin und wieder sahen wir eine Wade in groben Strümpfen, die aufgebrochene Naht ihrer alten porösen Turnschuhe vor uns – wurde nicht müde, uns die Geschichte des Turmes und seiner fünf Glocken zu erzählen: Bronzegeschütze, im Krieg  erbeutet, aus Frankreich hergeschleppt, eingeschmolzen und zu Kirchenglocken gegossen. Fünfhundert Stufen hinauf in den Turm, immer weiter hinauf, doch langsam gewahr werdend, dass wir in dem Schlund dieser sich im Kreise drehenden Treppe steckten, so als seien wir vom Turm verschluckt worden und versuchten nun, in gegenläufiger Richtung wieder hinaus zu gelangen. Kalt und modrigum uns herum, es roch nach Pilz und feuchtem Mauerwerk, setzten wir unsere Schritte jetzt blind. Fünfhundert Stufen hinauf in den Glockenstuhl, wo einmal fünf Glocken gehangen hatten, so riesig, so schwer, dass es zwanzig Glöckner bedurfte, sie zu bewegen und sie zum Tönen zu bringen! Und deren Klang an jenem Abend, als sie eingeweiht wurden,  so laut und mächtig über der Stadt dröhnten, dass die Klagen der Wölfe, ihr aufgeschrecktes Heulen und Bellen aus dem nahe gelegenem Zoologischen Garten lange nachhallten. Die Tiere hatten an ihren Gattern gekratzt, heulend, heiser vor Aufregung, und nun glaubten auch wir von draußen ihr raues Bellen und Winseln zu hören, weit weg und tief unter uns, während die Stadt, ihr ununterbrochenes Rumoren gar nicht mehr vorhanden war, verschluckt vom dicken Mauerwerk des Turmes. Die Stimme der Alten bewegte sich so weit über uns, dass sie, dumpfer und leiser geworden, im Gemäuer festzustecken schien, als würden die Steine selbst ihre Geschichte erzählen.

Und manchmal verstummte sie ganz.

Ruckartig, als würden wir aus tiefem Schlaf hochschrecken, durchzuckte es unsere Körper, und mit Entsetzen erkannten wir, wohin sie uns geführt hatte. Wir hingen in verrosteten Stahlkonstruktionen, unsere Hände ertasteten ein Leitergerüst, schwankend unter unseren Füßen, geborstener Stein über uns, brüchiges Mauerwerk, ein schwarzes klaffendes Loch zur Seite und das Lachen und jeder Ton blieb uns im Halse stecken … Wohin bringt sie uns? Wir hätten nicht mitgehen dürfen. Nur still jetzt, still … Dreihundertzwanzig, rief die Stimme von oben herab, es sind noch dreihundertundzwanzig Stufen, und ängstlich, zaghaft, stiegen wir weiter hinauf. Der Stein unter unseren Händen erwärmte sich nicht, doch festes Mauerwerk umgab uns nun wieder, während die Stimme uns weiter leitete, diese Stimme, die wir jetzt gleichermaßen fürchteten wie herbei sehnten. Wir ahnten, doch noch trauten wir uns nicht, den Gedanken bis zu Ende zu denken, dass sie es war, die die Stufen unter unseren Füßen, die Wände, den bröckelnden Putz, den kühlen Stein, der nach Pilz und Feuchtigkeit roch, mit ihren Worten baute und uns durch Zeitschichten führte und die Geschichte des Turmes erzählte: unzählige Male mussten die Glöckner hinaufsteigen, um die Glocken einzuschwingen, die Bewohner der Stadt hörten stolz auf ihren Klang, heulten mit den Wölfen und zuckten mit den Schultern, was konnten sie schon ausrichten? Und dass ihnen auch nichts erspart bliebe! sagten sie, als die Glocken im Zweiten Weltkrieg wieder abgenommen wurden, um sie erneut einzuschmelzen und zu Kriegsgerät zu verarbeiten. Doch damals, am Abend der Einweihung – als die fünf mächtigen Glocken zum ersten Mal läuteten, laut und  überwältigend – hatte niemand damit gerechnet, dass die Wölfe so unruhig sein würden, dass sie an ihren Gattern zerrten und kratzten, bis ihre Krallen blutig waren … Und wir folgten der Alten oder dem, was von ihr übrig war, dem dumpfen Klang ihrer Stimme, keuchend hinauf, Stufe um Stufe, eingehüllt in den Widerhall der eigenen stapfenden Schritte und unserem leisen Stöhnen und Fluchen. Die schreckliche Alte … sie erinnert sich an alles …  Ja, sie hätte uns sagen sollen …, so flüsterten wir miteinander, jedoch immer darauf bedacht, ihre Stimme nicht zu verlieren. Niemand glaubte jetzt noch an ein kleines amüsantes Abenteuer, der Alten hinauf folgend über Stufen, die nicht mehr schief und ausgetreten unter unseren Füßen lagen, sondern schartig  und aufgeborsten, so dass wir vorsichtig tasten mussten. Hundertachtzig Stufen, dirigierte sie uns weiter. Wir fügten uns – was sonst konnten wir tun? – wissend, dass sich unter ihren Worten Mauern und Geschichte neu formten, Fugen sich schlossen und der bröckelnde Putz fest wurde – eingeschüchtert, immer darauf bedacht, ihre Stimme nicht zu verlieren. Das Mauerwerk war jetzt nichts weiter als kalter, nasser Stein unter unseren Händen. Habt Vertrauen! Rief es von oben, es klang wie das Rieseln der morschen Wände. Wir wussten, dass wir uns die Ohren nicht verstopfen konnten,  gegen die Geschichte des Turms, die sie unaufhaltsam weitererzählte, wussten, dass sie seine Zerstörung bisher aus ihren Erzählungen ausgeklammert hatte: die Bombenangriffe, die ein Feuer entzündeten, das bis zum Himmel reichte, die Dächer der Stadt verbrannte und die Spitze des höchsten Kirchturmes abspringen ließ wie ein Bauklötzchen in einer Spielzeugwelt. Und die Wölfe im Zoo, Bäume, Steine, Menschen zu Staub zerrieb. Wir durften unsere Ohren nicht verschließen, mussten ihr, die uns in Schleifen und Bögen die Geschichte des Turms erzählte und mit ihren Worten Steine zu Stufen stapelte, vertrauen. Noch fünfzig Stufen, dann ist es geschafft, lachte sie über uns, plauderte weiter über den alten Turm, der seit hundertfünfzehn Jahren über die Stadt schaut, auch wenn er heute nur noch achtundsechzig Meter misst, mit seinen fünfhundert Stufen und fünf Glocken, bei deren Klang die Wölfe geheult hatten und alle überrascht waren, denn damit hatte niemand gerechnet, und man hatte die Polizei zum Zoologischen Garten geschickt, die jedoch nichts ausrichten konnte … Wir waren nun wirklich erschöpft, in diesem Schlund gefangen, unter uns das Knurren der Wölfe über uns der nackte Himmel, denn was sonst würde uns oben erwarten? Und endlich traten wir hinaus auf eine Plattform, geborstenes Mauerwerk über uns, durch das der nächtliche Himmel zu uns herunterfiel, fahles Mondlicht herein sickerte, und die Alte saß kichernd am ausgezackten Mauerrand, mitten im Krater der Geschichte, wie ein keckes Hütchen trug sie die Mondsichel über ihrem Kopf und ließ die Beine baumeln.

II.

Kommt her, kommt doch näher, gurrte die Alte: In jener Nacht, als die Stadt zerstört wurde … begann sie wieder.

Märchentante, rief einer von uns. Hör doch endlich auf …

Ja, ihr Alten habt zu viel Vergangenheit.  Wenn ich könnte, würde ich die Löschtaste drücken, sagte Till.

Und ihr? Habt zu viel Zukunft. Natürlich mehr Zukunft als Vergangenheit…

Ja, schnitt ihr Pínarin die Sätze. Wir gehen nur geradeaus, wir schauen nicht zurück.

Und wohin wollt ihr gehen? Wohin könnt ihr denn noch gehen?

Wohin wir wollen. Let`s go, riefen wir

Und schon stolperten wie die Stufen wieder hinunter, es war jetzt so finster im Treppenaufgang, dass wir an den Wänden entlang tasteten. Hinter uns rief die Alte, dass wir bleiben könnten, die Nacht mit ihr verbringen. Wir liefen schneller, unsere Schritte dröhnten zwischen den engen Mauern. Keiner sagte ein Wort, doch wir dachten alle daran was passieren würde, wenn ihre Stimme uns nicht mehr führte. Nur unsere keuchenden Atem, unsere Bewegungen, das davon erzeugte Reiben der Kleidung.  Lumpen, Müll der Geschichte …Wir mussten fort von dieser Stimme, die uns hochgeführt und jetzt immer noch nicht loslassen wollte, fort von ihrem Singsang, der uns Vergangenes bis in die Zukunft hinein knüpfen wollte. Bald schon klang sie nur noch gedämpft aus dem Bauch des Turmes hinab und verlor stetig an Macht. Wir erreichten die letzten Stufen, wussten jetzt, dass sie uns nicht verfolgte.  Jazz,uns allen voraus, stand schon im Vorraum, lachte ausgelassen, japste nach Luft, bis plötzlich nur noch ein hohes, krampfhaftes Schluchzen aus ihr heraus brach. Wir anderen stürzten an ihr vorbei ins Freie.

Keine Wölfe.

Alles nur Hirngespinste.

Licht, taghell und bunt wie Glasperlen. Stille Nacht, heilige Nacht, alles schläft, einsam wacht …, tingelte es aus Lautsprechern dicht neben uns. Besucher schoben sich über den Markt zwischen den Buden hindurch. Wir drängelten und stießen uns gegenseitig voran, der Schreck war uns wohl in die Glieder und in die Gesichter gesprungen, denn die Menschen schauten misstrauisch und nahmen Abstand von uns. Marcel pfiff auf einer Trillerpfeife, folgt dem Rattenfänger, rief er und ging uns voran. Schaufenster, Passanten. Restaurants und Bars. Aus den parkenden Autos stiegen Mädchen, die trugen ihre Röcke so kurz, dass man ihre Slips sehen konnte. Lässig schaukelten sie ihre Hüften auf hohen staksigen Beinen – wohl hundert Mal in ihren Kinderzimmern geübt – und Bierflaschen zwischen den Fingern. Ältere Frauen und Männer flanierten unter ihnen, als seien sie in einem Museum. Schilder überall, darauf stand: Bitte nicht anfassen!

Das Band des fließenden Verkehrs dicht und endlos. Der Mond war hinter einer Wolkenwand verschwunden. Es hatte angefangen zu schneien. Julie ließ erneut die Whiskyflasche kreisen, und trank selbst den letzten Schluck. Sofort wollte sie mehr. Wir zogen sie mit uns, hier gab es ohnehin keinen Supermarkt, keine Tankstelle. Trotzdem hörte die Stadt nicht auf zu pulsieren; Fahrzeuge, Lichter, Verkehrssignale, zirkulierende Ströme, Nervenbahnen im Körper der Stadt. Wir wollten raus. Weg von all dem Tand, überquerten eine Brücke, Tand ist das Gebilde von Menschenhand, zitierte Said. Das Licht der Straßenlaternen wurde spärlicher. Dafür leuchteten die ersten Bäume im Tiergarten wie weiße Gestalten. Vor uns der große Stern, die Siegessäule. Keine Wölfe rief Maite, nur Autos und fegte mit der Hand über einen Kotflügel, pappte den Schnee zusammen, warf und traf. Hehe, pass auf, wir knechten dich! Sofort waren wirmitten im Schlachtgetümmel, rannten auf die Straße, um die Säule herum, die Autofahrer wichen uns aus. Bombardements von Schneebällen.  Tatatata,  tönte die Fanfare. Schneeschlacht. Angriff von links: Attacke!! Wir warfen uns in die Gräben, zogen die Köpfe ein, wenn die Geschoße über uns hinweg sausten, Schnee und Erde auf spritzten. Kämpfen, bis zum letzten Blutstropfen schrie einer und wir wälzten uns vor Lachen. Auch als unsere Hände zu Klauen gefroren, gaben wir nicht auf. Wir schlachten den Schnee, rief Jazz, einen Stock in Händen, mit dem sie gen Himmel wies. Und Victoria, die Siegerin, lächelte auf uns herab. Irgendwann zogen wir uns gegenseitig an den  Haaren aus unseren Schutzgräben heraus. Love, Peace, sagten wir zueinander, Mittel- und Zeigefinger zu einem V geformt.

Wir gingen weiter, der Schnee trieb uns voraus, als wolle er uns den Weg weisen. Eine breite, eine ausladende Straße, an ihrem Ende das Tor, mächtig und fest, eine Straße, gerade richtig für Paraden und Aufmärsche.

Oder Revolutionen, sagte Said.

Oder Events, konterte Marcel.

Alle Laternen waren jetzt erloschen – Dekret des Umweltministeriums. Dichtes schweres Schneegestöber um uns herum, zwischen den weißen Bäumen, geriebene Schwärze. Etwa hundert Meter vor uns gaukelten kleine bewegliche Lichter, auf die wir zugingen. In einem großen Tierzwinger, saßen einige Männer und Frauen hinter Schreibtischen, Lampen vor ihren Stirnen, mit ihren Augen folgten sie uns auf Schritt und Wort: konterrevolutionäre Subjekte, auf der Suche, experimentierfreudig, selbstbestimmt, freundlich. Gefährlich, flüsterten sie, notierten gewissenhaft und legten alles in Akten ab.

Als wir weitergingen jammerten einige, ihre Turnschuhe seien durchnässt und sie hätten jetzt keine Lust mehr. Wir nahmen sie zwischen uns, versicherten ihnen, dass unsere Freundschaft das wichtigste sei und sie deshalb nicht aufgeben dürften! Gingen auf das Tor zu. Irgendwo in der Ferne, über einem großen Platz, hoch und windig, wandelten sich die Farben der Dächer und leuchteten den schwarzen Himmel aus. Technomusik waberte herüber, das Wummern der Bässe und die Verkehrsgeräusche mischten sich zu einem einzigen Sound. Marcel und Julie scherten aus, sie wollten Kino und Popcorn, mit einem Wort: Zivilisation, sagte Julie, erst jetzt bemerkten wir, wie betrunken sie war, ihre Sprache so abgeschliffen, wie ihre Bewegungen eckig. Und später Hamburger, setzteMarcel hinterher. Die Fürze der Rinder bohren die Löcher in die Atmosphäre, sagten wir. Weißt du das immer noch nicht?

Ach, lasst mich in Ruhe, lasst mich endlich in Ruhe mit all dieser meine Umwelt Kacke, sagte erundreichte seine Trillerpfeife an Saidweiter.

Wofür?

Man kann nie wissen wofür, sagte er und zog Julie mit sich fort. Unser Liebespaar, riefen wir. Liebt euch bis zum bitteren Ende!

Der Wind trieb uns jetzt den Schnee entgegen. Manchmal die Spitze vom Mond durch ziehende Wolken. Wir fünf trotteten weiter, hielten uns aneinander fest, gingen zielsicher auf die Tore zu. Ein Schild wies uns auf die anfallenden Gebühren hin:  Energieversorgung, zehn Euro! Der trillionste Besucher wird kostenlos erhellt! Die Wachen saßen jedoch in den Torhäusern, spielten Karten und beachteten uns nicht. Wir schlichen vorbei, hörten hinter uns das Klappern von Hufen, eine Kalesche sprengte über die weiße harsche Fläche. Auf dem Kutschbock der Wagenlenker, Perücke und Dreispitz tief im finsteren Gesicht. Fackeln loderten neben dunklen Fensterflächen, auf denen sich für Sekunden unsere überraschten Augen spiegelten. War dort jemand im Wageninnern? Wer? Und konnte er uns sehen?

Und jetzt rückte die Stadt wieder näher heran, mit all ihrem Glitter und Glitzer, mit dem sie sich aufgetakelt hatte. Die berühmten Linden, die der Straße ihren Namen gegeben haben, hatten sich Lampen wie Sterne aufgesteckt! Eine funkelnde, eine glimmende  Welt gegen den Himmel gestellt. Taxis und Busse gaben ihr Geschwindigkeit. Die Berlintouristen kamen ihren Verpflichtungen nach, trotteten ihre Strecken ab und hielten ihrePortemonnaies in den Wind. Vor dem KaDeO  posierten sie Arm in Arm mit Schauspielern in Uniformen der Vopos für ein Foto und sangen dazu: Über sieben Brücken musst du gehen ... Und in dem Kaufhaus wühlten sie an den Ramschtischen der Revolution  – Hemden, Orden, Mauerstücke –  kauften einen Atemzug wahrhaftiger, radikaler Gedanken.

Dann gingen die Lichter endgültig aus. Sperrstunde. Genug gesehen! Genug gekauft!

Wir wollten uns nicht verscheuchen lassen, blieben draußen und trieben mit den Schneeflocken weiter, leicht und übermütig. Fahrende Autos nur noch wenige. Dagegen parkende links und rechts, wie ein riesiges, dicht aufgereihtes Schmuckband unter Schnee. Bald nur noch Dunkelheit, schwärzeste Schatten. Keine Bewegung. Kein Lärm.

Und die Nacht begann …

Die Stadt hörte nicht auf, Stadt zu sein. Immer mehr Straßen öffneten sich. Häuser, Reklametafeln, Denkmäler, vorbei an Fassaden, so trostlos und dunkel, dass es kein Ende gab, nur zu unseren Füßen schimmerte es schneebleich und schwerelos. Wohin wollten wir? Wir kannten unser Ziel nicht.

Etwas ganz Neues …

Etwas Aufregendes …

Wollen wir wetten? Wir kommen hier raus, schlug Pínar vor.

Ja, wir wollten die Stadt, in der sich in jeder Ecke Vergangenheit rottete, schaffen! Ihr und uns beweisen, dass es möglich sei, sie zu bezwingen. Man müsste sie doch einmal durchqueren und heraustreten können. Die Schneenacht schien uns gerade richtig dafür, dies heraus zu finden!

Fünf wankend im Schnee. Verschlossene Türen, die sich manchmal öffneten, und mit einer Wolke von Dunst und Licht und Musik torkelten einzelne Gestalten hinaus. Wenn wir sie riefen, waren sie schon um die nächste Ecke verschwunden. Wir suchten den Eingang und fanden nur verriegelte, verschlossene Türen und drängende Dunkelheit, die aus den Fenstern heraus zu quellen schien. Wolkenwände, tief und fest ineinander verkeilt. Der Mond immer noch dahinter verschwunden.Die Nacht hörte nicht auf, und je länger je lieber legte sie mehr Finsternis über uns. Wir fassten uns an den Händen. Nicht klein werden, nicht in der Angst verschwinden!

Mir ist unheimlich, flüsterte Jazz. Haben wir kein Feuerzeug? Keine Taschenlampe?

Nein. Wir hielten uns an dem Kinderglauben fest, dass das Monster, der Wolf mit roten Augen, unter unserem Bett erst hervorkommt, wenn Licht uns sichtbar macht.

Und Stille. Eine schwarze dichte Stille, die uns in die Ohren kroch und dort zu sprechen begann.

Hörst du?

Ja, hörst du es auch?

Eine Melodie. … ein Chor, der immer dichter wurde. Vorsichtig, leise bewegten wir uns weiter, lauschten, bis die vielen Stimmen auseinanderfielen in einzelne Worte oder Sätze. So viele Stimmen wie die Schneeflocken. Jede Schneeflocke ein Gedanke. Und wohin wir auch hörten: Monologe, Einsamkeiten, Ängste, Verachtung. Wir waren erschrocken, ausgeliefert demzirkulierenden Gedankenstrom mussten wir weiter gehen. Solange wir gingen, konnten wir unsere Machtlosigkeit aushalten. Im Gehen blieb die Zeit stehen und die Nacht hörte nicht auf. Die Stadt ächzte unter der Vielzahl der Erinnerungen. Sie schien uns zu rufen. Was wollte sie uns sagen? Schließlich legte Till seinen MP3 – Player im Schnee ab. Den brauche er nun auch nicht mehr. Wir legten unsere Handys dazu, Maite sagte ihres sei ohnehin nicht mehr geladen.

Immer dichter rückten die Häuser an uns heran, die Straßenverläufe zogen sich zusammen. Von einem Schild löste sich ein Schneehaufen, die Buchstabendarunterabgeschliffen, ausgelöscht. Wir kamen an einen Platz, wo die Fontänen des Brunnens aufragten, wie im Strom erstarrte Pfeilspitzen. Wir waren jetzt erschöpft von der Kälte, der Schnee hatte sich auf uns gelegt, eine Rüstung, maßgeschneidert und frostig. Weiter, weiter trieb er uns und ein großer Wille, als hätten wir die Wette nicht nur miteinander, sondern mit allen außerirdischen Mächten getroffen: Wehe! Wehe! Hab ich doch das Wort vergessen… stöhnte der belesene Said und murmelte weiter von dem Zauberlehrling, der den Besen zum Wasser schickt …  Die Stadtansichten wurden uns immer fremder. Die Steinmauern dunkel, verwittert und voller Einschusslöcher. War dies nicht die Prenzlauer Allee? Hier hatten wir Freunde, kannten uns aus. Maite wollte ausscheren, doch Till sagte ihr, dass sie nicht fortgehen dürfe und nahm sie in den Arm. Bleib bei uns. Bitte, beschwor er sie.

Zusammen werden wir Schnee schlachten und die dunklen Abgründe löschen! Rief er

Daran glaubten wir, wollten wir glauben!

Wir stapften durch Schnee, der sich hoch wie die Autos neben uns aufhäufte. Die Häuser schüttelten ihr Last ab, fuhren auseinander, stellten sich neu zusammen, ließen andere Wege entstehen, oder verriegelten plötzlich unseren Lauf, wir stießen unsere Köpfe an ihnen und fanden nicht weiter. Einmal öffnete sich eine Tür und wir gingen hinein und hindurch, konnten schon den Ausgang auf der anderen Seite erkennen, da vibrierte und zitterte das ganze Gebäude, die Treppen knirschten in ihren Verankerungen, durch die Türfenster konnten wir die Bewegungen der Straßen erkennen, das Haus drehte sich  und polterte. Und plötzlich ein Pfiff, ein Anpfiff. Das Haus wankte, verharrte und erstarrte still. Said hatte die Pfeife im Mund, er schaute verdutzt, lachte, und sein Gesicht leuchtete jetzt lebendig und rosig.

Wir verloren uns in der Stadt, trieben herum, wie die Schneeflocken, drehten und wendeten uns und fanden doch keinen Weg hinaus, kamen zurück zur Fontäne, die nun in Farben sich aufwarf und schillerte unter einem frei gewordenem Mond. Wir gingen in Kreisen, ein Schritt nach vorn und zwei zurück. Kein Spiel, das uns gefiel. Kein Lachen, dass uns befreite. Der Schnee türmte sich weit über uns und wie zuvor verstellten uns Häuser den Weg. Said war verzweifelt, nicht mal das Handy, sagte er. Gefangen in unseren eigenen, blöden Ideen! Wer kann uns helfen?        

Betretenes Schweigen. Wir wollten es nicht zugeben, aber wir waren genauso verzagt wie er, bereit aufzugeben. Wie sinnlos war dieses Laufen im Schnee. Aber was blieb uns, als weiter zu gehen mit schmerzenden Körpern und Füßen, so müde, dass sie schliefen, während sie weitergingen. Und Kälte, die klirrte und mit uns marschierte. Eis, das zu Feuer wurde.

Endlich entdeckten wir einen zarten Lichtschein über den Dächern, Straßenzüge entfernt. Rot und warm, und fassten Mut. Taumelten voran, zogen uns gegenseitig weiter, ein Licht, dort drüben, seht doch nur. Wir sind gerettet! Wir umrundeten einen Häuserblock, querten eine Straße, einen Platz. Schon konnten wir das Prasseln von Feuer hören, friedliches Stimmengemurmel, die Luft roch nach Harz und Holz. Sie roch nach Wärme. Schneller gingen wir, aufgeregt. Da, die nächste Straße, dort muss es sein, wir rannten und rutschten um die letzte Ecke, doch die Straße lag dunkel und verschlossen vor uns.

Starr vor Schreck! Eis zog unsere Beine hinauf.

Pínarließ sich in den Schnee fallen, keinen Schritt weiter, wimmerte sie. Jazz zog sie hoch, wenn einer von uns aufgibt, sind wir alle verloren. Denke an unser Versprechen, dass wir zusammengehören. Ich kann nicht mehr schluchzte Pínarund warf ihr schwarzes Haar über die Straße. Wir zogen sie mit uns. Nicht einschlafen, meine Schöne, schlaf nicht ein, sagte Till und hielt ihre Lider auseinander. Wir schleppten uns weiter, gingen rundherum, wieder leuchtete der Feuerschein weit über die Dächer. Mechanisch bewegten wir uns, griffen einander unter die Arme, doch auch diese letzte Kraft verließ uns bald und wir waren nun gleichgültig gegen das fremde und das eigene Leben. So gingen wir Runden um Runden und kamen dem Feuer nicht näher. Wir hatten den Kampf verloren. …

Doch dann hörten wir ihre Stimme. Historischer Plunder, Lumpen, Geschichten … Wir sahen ihren Einkaufswagen, beladen mit Plastiktüten. Erinnerungen aus dem Papierkorb, Plunder, Müll der Geschichte …Und sie, ein dürrer weißer Zwerg dahinter. Sie lachte und winkte uns zu. Erleichtert gingen wir ihr entgegen.