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„Die komplette Abwesenheit von Konflikt gibt es nicht“

Ismail Küpeli ist Politikwissenschaftler und forscht zu dem Verhältnis von Staat und Minderheiten in der Türkei sowie zu nationalistischen Tendenzen und identitären Bewegungen. Aktuell arbeitet er an seiner Dissertation über die kurdische Frage in der Türkei. Die Dissertation wird von der Rosa-Luxemburg-Stiftung gefördert. Küpeli ist außerdem als Projektleiter für die Themenbereiche Antisemitismus und Rassismus bei der Amadeu Antonio Stiftung tätig.

Foto: Felix Huesmann

Herr Küpeli, was bedeutet für Sie Frieden?

Die Diskussion, was unter Frieden zu verstehen ist, ist ja sehr umfangreich und sehr davon bestimmt, welche Vorannahmen mitschwingen. Ich verwende in meiner Arbeit eine enge Definition von Frieden: die Abwesenheit von Krieg und kollektiver, also staatlicher, Gewalt. Strukturelle Gewalt wird bei dieser Definition also nicht berücksichtigt. Das heißt nicht, dass es keinerlei Konflikte oder Gewalt gibt, aber dass Konflikte in friedlichem Kontext bearbeitet werden. Es gibt natürlich auch weite Definitionen. Da kann man dann aber so gut wie nie von Frieden sprechen, denn die komplette Abwesenheit von Konflikt gibt es quasi nicht. Das finde ich schwierig.

Mit Blick auf Ihre Forschung über die Türkei und den Nahen Osten: Wie können wir Frieden im internationalen Kontext fördern?

Wenn wir von Krieg oder Bürgerkrieg zu einem friedlichen Zustand kommen wollen, ist der wichtigste Schritt, dass wir die unmittelbare kollektive Gewalt beenden. Das ist klassischerweise ein Waffenstillstand, indem sich alle Parteien darauf einigen, ihre Interessen nicht gewaltsam, sondern in Verhandlungen durchzusetzen. Es braucht also immer den Zwischenschritt der Waffenruhe, um zu Frieden zu gelangen. Nur kommt es dazu leider meist gar nicht, weil meist die Parteien nicht bereit sind zu verhandeln.
Um ein Beispiel zu nennen: In der Türkei ist der gegenwärtige Gewaltkonflikt dadurch gekennzeichnet, dass die türkische Regierung mit der kurdischen Seite nicht verhandeln will, zumindest nicht ohne Vorbedingungen, die nicht erfüllbar sind. Sie fordert, dass die kurdische PKK ihre Waffen abgibt. Es ist klar, dass keine Waffenruhe zustande kommt, wenn eine Konfliktpartei von der anderen erwartet, dass sie kapituliert und aufgibt. Friedensverhandlungen setzen voraus, dass beide Parteien sich berechtigte Gesprächspartner:innen an einen Tisch setzen.
Womit ich mich in meiner Dissertation beschäftige, ist u.a. die Frage, warum die sogenannte Kurdenfrage so eskaliert ist. Die Kurd:innen, die in der Türkei leben, haben keine Rechte und das schon seit fast 100 Jahren. Dazu gehören Dinge wie: Muttersprache oder kulturelle Autonomie. Darf ich meine Muttersprache sprechen, ohne Restriktionen zu befürchten? Inwieweit darf ich nach meinen Vorstellungen leben und wieviel wird vom Zentralstaat diktiert? Die Türkei erwünscht keine Form von Eigenständigkeit. Bei einer Gesellschaft, die sehr vielfältig ist, ist das schwierig, gerade in östlichen Gebieten, wo es eine kurdische Mehrheit gibt. Wenn diese Mehrheit kein Mitspracherecht hat, ist das ein Problem. Auch auf politischer Ebene wird jeder Versuch der kurdischen Organisation von der Türkei unterbunden. Der Begriff „kurdisch“ wäre in Partei- oder Organisationsnamen undenkbar.
Es gibt in der Türkei also eine sehr lange Erfahrung von Diskrimierung und Benachteiligung der Kurd:innen. Wenn wir einer Bevölkerungsgruppe Rechte vorenthalten, dann stellt sich irgendwann nicht mehr die Frage nach einem gemeinsamen Staat, in dem alle leben. Sondern dann ist es verständlich, dass viele Kurd:innen sich abspalten wollen. Das sah vor 50 oder 60 Jahren noch anders aus. Damals hätte man einen Großteil der Kurd:innen überzeugen können, hätte man ihnen Rechte gewährt. Konflikte haben immer Vorgeschichte und wenn wir über Frieden reden, müssen wir auch immer darüber reden, welche Erfahrungen die Menschen gemacht haben.

Sie formulieren in Ihrer Dissertation u.a. das Ziel, Empfehlungen für die Erinnerungsarbeit und politische Bildung zu erarbeiten, um den Friedensprozess in der Gesellschaft voranzubringen. Wie müssten friedensfördernde Erinnerungskultur und politische Bildung Ihrer Ansicht nach aussehen?

Vorschläge sind für jemanden, der in der Wissenschaft arbeitet, etwas schwierig, da sie selten in Politik aufgegriffen werden. Was wir aber mittlerweile wissen, ist, dass es Anerkennung der historischen Tatsachen braucht. Nehmen wir das Beispiel Südafrika: Die Aufarbeitung des Apartheitssystems war und ist notwendig. Was ist passiert, wer ist schuld, wie können wir dafür sorgen, dass es nicht mehr dazu kommt? Im Fall Türkei braucht es ebenfalls eine Aufarbeitung der Geschichte und das Leid der Bevölkerungsgruppe muss anerkannt werden. Damit meine ich zum Beispiel die Anerkennung des Genozid an den Armenier:innen 1915, aber auch die Diskriminierungs- und Marginalisierungserfahrung der Kurd:innen. Nur so können gemeinsame Erinnerungen geschaffen werden, um zu einem Frieden zu kommen, der nachhaltig, aber auch wahrheitsgemäß ist. Mit wahrheitsgemäß meine ich, dass man nicht einfach Vergangenheit ruhen lassen kann. Man muss solche Gewalterfahrungen immer wieder aufbrechen und sich dem stellen.
Wir sehen: Frieden ist voraussetzungsreich. Frieden ist nicht der Schlussstrich, sondern es ist wichtig das, was passiert ist, aufzuarbeiten. Das ist der Unterschied zwischen Waffenruhe und tatsächlichem Frieden, in dem Konflikte bearbeitet werden und überwunden werden. Und dafür braucht es eine andere Erinnerungskultur.

Das fordern Sie ja auch in Ihrer Dissertation: „eine Anerkennung der Pluralität und Diversität der jeweiligen Bevölkerungsgruppen“. Gibt es Positivbeispiele, bei denen das schon funktioniert? 

In der türkischen Gesellschaft ist das schwierig, weil das türkische Staatsmodell zentralistisch ist. Es wird von einer einheitlichen homogenen Nation ausgegangen. Aber in Deutschland gibt es bereits einige Fälle, in denen Menschen mit verschiedenen Wurzeln in der Türkei sich hier neu zusammensetzen und über sich sprechen. Diese Dialogprozesse – beispielsweise von Menschen mit armenischem und kurdischem Hintergrund – sind in Deutschland in relativ geschütztem Raum möglich und müssen unterstützt werden. Dafür war auch die Anerkennung des Genozid an den Armeniern 1915 in Deutschland wichtig. Es braucht einen Rahmen, in dem man sich auf historische Tatsachen beziehen und dann schauen kann: Wie sind die unterschiedlichen Erfahrungen und wie können wir gemeinsam leben? Diese Beispiele sind sehr kleinformatig, aber mit Modellcharakter. Wenn man es ganz groß sehen will, kann man sich Staaten anschauen, in denen das anders organisiert ist, als in der Türkei. Dort gibt es Föderalismus und kulturelle Autonomie. In Europa sind das Länder wie Spanien, die den Zentralstaat aufgeweicht haben und kulturelle Autonomie anerkennen. In Syrien wiederum gibt es einen autoritären Staat, der der Bevölkerung das Leben vorschreiben will. Da sind Konflikte vorprogrammiert.

Zum Schluss noch ein kleiner Themenwechsel: Sie beschäftigen sich auch mit nationalistischen Ideologien. Könnten Sie in dem Zuge etwas über die Querdenker:innen Szene sagen?

Meine Arbeit hat zwei Seiten: erstens meine wissenschaftliche Arbeit und dann meine Tätigkeit für die Amadeu Antonio Stiftung zu Verschwörungsideologien. Beide Themen haben sehr viel miteinander zu tun. Bei den Querdenker:innen, aber auch bei anderen Bewegungen, können wir sehen, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen für das Leiden der Welt verantwortlich gemacht werden. Das können wir bei nationalistischen Bewegungen auch beobachten, beispielsweise beim türkischen Nationalismus. Parallel zur Dolchstoßlegende des 1. Weltkriegs, wurden die Armenier:innen dafür verantwortlich gemacht, dass das osmanische Reich den Krieg verloren hat. Die Armenier hätten sich angeblich mit dem Feind verbündet hätten und seien demnach der innere Feind. So wurde letztendlich der Genozid von 1915 legitimiert.
Es gibt natürlich Differenzen, aber auf einer basalen Ebene erkennen wir grundsätzlich ähnliche Denkmuster bei Nationalismen und der Bewegung der sogenannte Querdenker:innen.

Als wie gefährdend schätzen Sie die aktuellen Entwicklungen der Querdenker:innen-Szene für eine friedliche Gesellschaft ein?

Es wird vielfach gewarnt vor einer Spaltung der Gesellschaft und dass man Menschen nicht unter Druck setzen sollte. Es ist zwar richtig, dass Druck in einer solcher Situation zu weiteren Verwerfungen führen kann. Ein deutlich größeres Problem ist aber, dass in der Querdenker:innen-Bewegung antidemokratische und antipluralistische Tendenzen herrschen. Das gesellschaftliche Leben wird in Frage gestellt und die Vielfältigkeit wird als Problem deklariert. Das ist zwar keine unmittelbare Bedrohung für die gesamte Gesellschaft, führt aber dazu, dass mehr und mehr Bevölkerungsgruppen gefährdet werden. Demos eskalieren, Bevölkerungsgruppen werden attackiert, es existieren Telegram Gruppen, in denen einzelne Menschen als Feinde gesehen werden.
In Deutschland ist es bislang auf der Bedrohungsebene geblieben, aber der nächste Schritt ist nicht mehr undenkbar. Wer geht den Schritt von Sprache zur Handlung? Das ist eine Gefahr, die wir vielleicht noch zu wenig sehen. Bislang betrifft es vielleicht nur wenige, langfristig kann diese Bewegung aber den gesamtgesellschaftlichen Frieden gefährden.

Vielen Dank für Ihre Zeit und dieses interessante Gespräch, Herr Küpeli!

Sehr gern.

Interview: Gina Tomaszewski