„Frieden bedeutet, dass jeder Mensch sicher ist“

Die Bildungsinitiative Ferhat Unvar wurde nach dem rechtsterroristischen Anschlag am 19. Februar 2020 in Hanau gegründet, bei dem neun Menschen ihr Leben verloren. Einer davon war Ferhat Unvar. Seine Mutter, Serpil Temiz Unvar, gründete in Gedenken an ihren Sohn die Initiative, die antirassistische und Empowerment-Workshops an Schulen anbietet. Die Bildungsinitiative wird von Freund:innen von Ferhat Unvar ehrenamtlich unterstützt. Für ihre Arbeit hat die Initiative mehrere Preise bekommen. Ali Yildirim, Kindheitsfreund von Ferhat Unvar und seit Gründung der Initiative Mitarbeiter, hat mit uns über Rassismus und Frieden und den Anschlag in Hanau gesprochen.
Was bedeutet für euch Frieden?
Für mich bedeutet Frieden, dass jeder Mensch sicher ist und sein Leben in Frieden leben kann. Das ist nicht möglich, solange es Rassismus gibt. Rassismus hat dazu geführt, dass sehr viele Menschen aufgrund rechter Gewalt ihr Leben verloren haben. Diese Leute konnten ihr Leben nicht in Frieden führen und so geht es vielen Minderheiten.
Rassismus fängt im Kleinen an. Der Anschlag in Hanau hat erneut gezeigt, dass Rassismus tötet. Ist Rassismus also eine Gefahr für den gesellschaftlichen Frieden?
Solange in der Praxis nicht alle Bürger:innen die gleichen Rechte haben, kann es keinen Frieden geben. Ich selbst habe einen deutschen Pass, aber ich fühle mich nicht auf die gleiche Weise sicher wie weiße, privilegierte Staatsbürger:innen. Allein im letzten Monat bin ich sechs oder sieben Mal von der Polizei kontrolliert worden. Das nennt man Racial Profiling.
Ihr sagt, dass Rassismus nicht angeboren ist, sondern in der Gesellschaft entsteht. Was muss sich gesellschaftlich verändern, um Rassismus zu beseitigen?
Einiges. Rassismus wird nicht angeboren, sondern weitergegeben. Das kann sehr früh, beispielsweise im Elternhaus oder in der Schulzeit, sein, aber auch später passieren. Wichtig ist: Rassismus wird erlernt und er kann auch wieder verlernt werden. Dafür muss aber gesellschaftlich anerkennt werden, dass Rassismus ein Problem ist, das uns alle angeht. Es ist mir aber auch wichtig zu sagen, dass Rassismus nicht nur weiße Menschen betrifft, sondern auch innerhalb von Minderheiten eine Rolle spielt. Das hat oft mit Traditionen und verankerten Strukturen zu tun. Wenn wir für Chancengleichheit und Gerechtigkeit eintreten, muss das für alle Menschen gelten und nicht nur für bestimmte Gruppen. Meiner Meinung nach haben vor allem die Medien eine große Verantwortung. Unter anderem die Medien tragen dazu bei, dass der Attentäter in Hanau eine Shisha Bar zum Ziel hatte. Das war für mich immer ein Safe-Space. Aber die Medien haben Shisha Bars zu einem negativen Ort gemacht, an dem Clan-Kriminalität herrscht und das führt dazu, dass ein rassistischer Täter sich diesen Ort als Ziel aussucht. Deshalb geht es auch darum, welche Medien man selbst konsumiert. Es gibt fest verankerte, veraltete Strukturen, die sehr schwer aufzubrechen sind, aber mittlerweile haben wir das Werkzeug dazu.
Der erste Schritt ist immer die Bereitschaft, sich damit auseinanderzusetzen und aus der eigenen Bubble zu treten. Aber das muss aus der Gesamtgesellschaft kommen und nicht aus einem Teil.
Ihr habt im vergangenen Monat zwei Preise gewonnen. Den Aachener Friedenspreis habt ihr gemeinsam mit der Initiative 19. Februar entgegengenommen. Das zeigt nochmal, wie wichtig eure Arbeit ist. Dennoch ist es bemerkenswert, dass sich zwei zivilgesellschaftliche Initiativen gegründet haben, um Erinnerungsarbeit an dem Anschlag zu verüben und aufzuklären. Ihr macht das ehrenamtlich zusätzlich, weil es euch wichtig ist, die Betroffenenperspektive zu machen. Wieso muss diese Arbeit von Betroffenen gemacht werden und was macht das mit euch?
Rassismus geht uns alle an, aber wir müssen uns auch über die Rollen klar werden. Betroffene von Rassismus sind Expert:innen, weil sie die Erfahrung am eigenen Leib machen und demnach selbst sagen können, was es braucht, um etwas zu verändern. Serpil Terpiz Unvar war diese Betroffenenperspektive wichtig, weshalb wir die Initiative selbstorganisiert gegründet haben. Niemand von uns hatte Erfahrung mit der Arbeit und wir haben alle viel dazu gelernt. Wir erfahren sehr viel Unterstützung aus der solidarischen Zivilgesellschaft, aber wir müssen immer noch um politische und finanzielle Unterstützung kämpfen.
Es geht auch darum, Raum zu schaffen. Wenn es um rechte Gewalt und Attentate geht, müssen die Betroffenen und Angehörigen im Fokus stehen. Es geht nicht, dass Betroffene nicht zu Gedenkveranstaltungen eingeladen werden, wie es vorgekommen ist. Oder dass Demokratiezentren gegründet werden und in den Vorständen nur alte weiße Männer sitzen, denen die eigene Erfahrung fehlt und die auch noch nie in dem Bereich tätig waren. Da geht es auch um Authentizität.
Die meisten von uns haben den 19. Februar selbst miterlebt und da ist es natürlich schwer, diese Arbeit zu machen, Unsere Workshops werden immer sehr emotional, aber das hat auch seine guten Seiten. Wenn ich als Freund von Ferhat Unvar vor den Leuten stehe und spreche, dann wird zugehört. Ehrlich gesagt konnte niemand den 19. Februar verarbeiten. Zum einen die Stadtgesellschaft nicht, aber auch wir nicht, die wir von Beginn an antirassistische Arbeit machen. Das ist natürlich hart, aber die Arbeit ist auch eine Art Heilungsprozess. Ich habe mich nach dem Anschlag so ohnmächtig gefühlt, dass hätte auch in eine Anti-Haltung umschlagen können. Deshalb bin ich froh, dass ich diese Arbeit machen darf.
Ihr seht Bildung als Schlüssel gegen Rassismus. Eure Gründerin Serpil Temiz Unvar hat einmal gesagt: „So wie es den Rechtsterroristen gelingt, sich ideologisch untereinander zu vernetzen, so müssen wir uns vernetzen.“ Was können weiße Einzelpersonen tun, um sich mit ihrem Rassismus auseinanderzusetzen?
Sich selbst bilden. Ich empfehle an dieser Stelle gern das Buch Der weiße Fleck von Mohamed Amjahid, das sich genau an die Zielgruppe richtet. Und es gibt Bildungsangebote, wie beispielsweise von uns. Diese müssen aber auch in Anspruch genommen werden. Das gilt auch für den ländlichen Bereich, wo es vielleicht keinen Migrationsanteil in den Klassen gibt. Es geht ja gerade darum, Berührungspunkte zu schaffen. Denn das braucht es, um die Bubble platzen zu lassen. Habt da keine Angst, auf uns zuzugehen, dafür sind wir ja da. Wichtig ist aber auch zu wissen: Ich kann Tipps geben, aber die Erfahrung müssen die Leute selbst machen. Wie gesagt, am Anfang steht immer die Bereitschaft, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.
In der Tatnacht des Attentats ist vieles falsch gelaufen. Am 3.12. hat der Untersuchungsausschuss zu dem Attentat in Hanau begonnen, bei dem ihr Teil seid. Was erwartet ihr euch davon?
Die Familien mussten sehr hart kämpfen, damit sie als erstes angehört werden. Natürlich sind wir froh, dass wir das tatsächlich geschafft haben. Aber sie haben bereits unglaublich viel Arbeit gemacht und dass neben ihrer Trauer. Es kann keine Genugtuung für die Familien geben, denn die Menschen sind tot, aber wir hoffen, dass die Vorfälle in der Tatnacht aufgeklärt werden. Es gab ja bereits Anzeigen, welche nicht verfolgt wurden. Viele Missstände wurden von den Familien selbst aufgedeckt, wie beispielsweise, dass der Notruf in der Tatnacht nicht besetzt war. Das hat Vili-Viorel Păun sein Leben gekostet. Oder dass der Notausgang in der Arena Bar, in dem der Täter mehrere Menschen erschossen hat, verschlossen war. Deshalb ist der Untersuchungsausschuss wichtig, damit auf Grundlage dessen neue Anzeigen gestellt werden können, denen dann auch tatsächlich nachgegangen wird.
Die Tat hätte vielleicht sogar verhindert werden können, hätte man die Gefahr, die vom Täter ausging, rechtzeitig ernstgenommen.
Wir hoffen nun auf Aufklärung, aber daneben muss es vor allem Konsequenzen geben und die Verantwortlichen müssen diese Konsequenzen tragen. Das sollte in einem Rechtsstaat selbstverständlich sein.
Vielen Dank für das Gespräch!
Wer sich näher über den Anschlag informieren will, dem empfehlen wir den Podcast 120220 – ein Jahr nach Hanau auf Spotify.
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