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Anne Spiegel über Würde

Bundesfamilienministerin Anne Spiegel über „Würde“ (Foto: Nils Hasenau)

Jeden Menschen in seiner Einzigartigkeit wertschätzen

„Würde“ ist der Wert, mit dem wir uns in diesem Jahr besonders intensiv beschäftigen wollen. Gefördert wird das Projekt vom Bundesfamilienministerium. Was liegt näher, als die zuständige Bundesministerin Anne Spiegel zu fragen, was sie selbst unter Würde versteht, und was sie sich dazu wünscht.

PNJ: Frau Ministerin, „Würde“ ist ein enorm vielschichtiger Begriff. Was verbinden Sie persönlich damit?

Anne Spiegel: Wenn ich den Begriff Würde höre, denke ich als erstes an Artikel 1 unseres Grundgesetzes: „Die Menschenwürde ist unantastbar“. Aber Würde bedeutet für mich viel mehr als dieser eine Satz. Es geht darum, dass jeder Mensch allein durch sein Mensch-Sein wertvoll ist und Rechte hat. Daher muss die Menschenwürde im Alltag immer wieder ausbuchstabiert werden. Für mich gehört dazu, dass wir erstmal jeden Menschen in seiner Einzigartigkeit wertschätzen. Und dass Menschen, die unsere Hilfe brauchen, um ihr Leben nach ihren Wünschen leben zu können, diese Hilfe auch bekommen.

Das gilt zum Beispiel für ältere Menschen und deren Angehörige, die auf eine gute, menschenwürdige Pflege angewiesen sind. Oder für Familien mit kleinen Einkommen, die Probleme haben, über die Runden zu kommen. Genauso gilt das für gleichgeschlechtliche Paare mit Kindern, die Regenbogenfamilien, die vom Staat und unserer Gesellschaft gleichberechtigt mit anderen Familienformen behandelt werden müssen.

PNJ: Sie bezeichnen sich als Feministin. Ist Würde als Menschenrecht nicht automatisch auch ein Frauenrecht? Und gibt es in diesem Bereich noch viel Handlungsbedarf?

Anne Spiegel: Jeder Mensch besitzt Würde. Damit ist sie natürlich auch ein Recht der Frauen. Wir leben in einem der reichsten und höchstentwickelten Länder auf dieser Erde. Frauen wie Männer haben hier unglaublich viele Möglichkeiten, sich selbst zu verwirklichen. Aber: Es gibt beim Thema Gleichstellung noch viel zu tun.

Wir haben zum Beispiel noch immer einen Gender Pay Gap von 18 Prozent. Frauen sind in Führungspositionen und technischen Berufen unterrepräsentiert. Berufe, die traditionell Frauen ergreifen, wie etwa die Krankenpflege, werden noch immer schlechter bezahlt als technische Berufe. Und Frauen sind viel häufiger Opfer von Gewalt, gerade durch ihren Partner oder Ex-Partner. Das treibt mich um. Diese Missstände will ich angehen und zum Beispiel unser Hilfesystem, die Beratungsstellen und Frauenhäuser, auf finanziell stabile Füße stellen. Damit jede Frau ihr Leben ohne Angst vor Gewalt oder Diskriminierung leben kann.

PNJ: Kindern und Jugendlichen wurde während der Corona-Pandemie mehr zugemutet als jeder anderen Bevölkerungsgruppe. Kommt das Thema Würde gerade bei unseren jüngsten Gesellschaftsmitgliedern schneller zu kurz als bei anderen?

Anne Spiegel: Ich werde alles daransetzen, dass wir Kinder und Jugendliche immer im Blick haben. Das war bisher nicht immer so. Wir müssen junge Menschen jetzt bestmöglich schützen und langfristig so unterstützen, dass sie die Folgen der Pandemie hinter sich lassen können.

Daher darf das Schließen von KiTas und Schulen auch nicht das erste, sondern das allerletzte Mittel in der Pandemiebekämpfung sein, um Kontakte zu reduzieren und unser Gesundheitssystem nicht zu überlasten. Die Einrichtungen sind mit ihren Fachkräften ein wichtiger Stabilitätsanker für Kinder und Jugendliche.

Die jungen Menschen haben sich in der Pandemie in weiten Teilen unglaublich verantwortungsbewusst und solidarisch verhalten. Sie haben sich mit Homeschooling arrangiert. Sie haben auf ihre Kontakte, auf das Sporttraining, den Chor, den Tanzunterricht, Geburtstags- und Abi-Feiern, auf Auslandsaufenthalte, Klassenfahrten, Ausflüge und vieles mehr verzichtet. Jetzt ist es an uns, auch solidarisch mit ihnen zu sein. Und sie in ihren Rechten zu stärken. Daher setze ich mich mit Nachdruck dafür ein, die Kinderrechte in unserer Verfassung festzuschreiben.

PNJ: Corona-Leugner, Querdenker, Impfgegner und viele andere befürchten immer wieder, dass politisch verordnete Einschränkungen ihrer Freiheit auch eine Beschneidung ihrer Menschenwürde mit sich bringen. Können Sie solche Argumentationen nachvollziehen?

Anne Spiegel: Für verantwortungsloses oder gar extremistisches Verhalten habe ich absolut kein Verständnis. Was ich durchaus nachvollziehen kann, ist, dass sich manche Menschen eingeschränkt fühlen. Diesen Menschen sage ich: Sie berufen sich auf ihre Freiheitsrechte. Freiheit bedeutet aber nicht, immer und überall tun und lassen zu können, was man will. Rechte kennen auch Pflichten, Freiheit gibt es nicht ohne Verantwortung. Denn ich darf meine Freiheitsrechte nur so weit nutzen, wie ich andere Menschen nicht unverhältnismäßig einschränke oder gar gefährde. Daher kann ich bei den jetzt in vielen Ländern beschlossenen Einschränkungen keinen Verstoß gegen die Menschenwürde erkennen. Sie dienen dem Schutz der Gesundheit und des Lebens, gerade von besonders verletzlichen Gruppen wie Menschen mit Vorerkrankungen oder Hochaltrigen. Sie haben auch ein Recht auf Schutz und eine sichere Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

PNJ: Wenn Sie drei Wünsche frei hätten, um die Würde in bestimmten Bereichen zu fördern: Was wären ihre sehnlichsten Anliegen?

Anne Spiegel: Sich auf drei Wünsche zu beschränken, fällt mir bei den vielen Themen, die wir jetzt angerissen haben, wahrlich schwer. Und das Wünschen zusätzlicher Wünsche ist sicherlich nicht erlaubt, oder?

Also dann fände ich es erstens toll, wenn es uns gelänge, einen breiten Konsens herzustellen, um alle Familien in ihrer Vielfalt anzuerkennen und mit einer starken Kindergrundsicherung Familien mit kleinen Einkommen abzusichern und so die Bildungschancen ihrer Kinder zu stärken.

Zudem müssen wir, zweitens, den Fachkräftemangel in den sozialen und gesundheitlichen Berufen angehen. Denn hier sind alle Menschen, Jung und Alt, betroffen. Wenn wir kein Personal haben, können wir weder eine gute Förderung von Kindern noch eine menschenwürdige Pflege im Alter sicherstellen.

Und ich glaube, drittens, es wäre wichtig, in der Pandemie verständnisvoll und respektvoll zu bleiben. Aggressives Verhalten, Anfeindungen und Bedrohungen bringen uns nicht weiter und das ist unserer Demokratie auch nicht würdig.

PNJ: Frau Ministerin, haben Sie ganz herzlichen Dank für das Interview!

Interview: Jörg Wild