Der gesellschaftliche Kampf um Identitätspolitiken ist unwürdig
Ich habe letztens geheiratet. Die Frau, die bereits seit mehr als 11 Jahren an meiner Seite ist. Kurz zuvor habe ich ein Interview geführt mit einer LSBTIQ+-Aktivistin aus Kirgistan, wo lesbische Frauen gerne mal mit einem Mann zwangsverheiratet werden. Auch meine Gesprächspartnerin wurde beleidigt, bedroht, hat Gewalt erfahren. Das Schlimmste, was mir passiert ist in Zusammenhang mit meiner sexuellen Identität, waren Beleidigungen und dumme Sprüche. Nicht-Beachtung und nicht ernst genommen zu werden ist auch ganz groß. In Württemberg, wo ich lebe, ist in dieser Hinsicht der Einfluss des Pietismus noch stark. Nicht umsonst war Baden-Württemberg das Land, wo die breiten „Demo für alle“-Proteste evangelikaler besorgter Bürger:innen und der AfD gegen neue Bildungspläne und einen Aktionsplan zur Gleichstellung queerer Menschen Ende 2013 bis 2016 auf fruchtbaren Boden fielen.

Diskriminierung und Gewalterfahrungen gegen LSBTIQ+-Menschen sind trotz einer Welle liberalerer Regierungen und Verbesserungen der Rechte für Queers seit ein paar Jahren weltweit aber wieder ein stärker werdendes Problem. In den letzten Jahrzehnten wurden zwar viele Fortschritte für LSBTIQ+-Rechte gemacht, bspw. gehören dazu die Streichung von Homosexualität von der Liste der psychischen Erkrankungen in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) 1990 und die Annahme der sog. Yogyakarta-Prinzipien in 2007, die das internationale Recht zur sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität regeln. Doch erst 2011 nahm die UNO zum ersten Mal einen Text über die Rechte queerer Menschen an. Dafür gibt es jetzt wiederum mehr als 20 UN-Maßnahmen, die sich um Gleichstellung und Gleichberechtigung kümmern.
Zum IDAHOBIT*, dem Internationalen Tag gegen Homosexuellen-, Bi-, Inter- und trans Feindlichkeit immer am 17. Mai, stellt die International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association (ILGA) in ihrem jährlichen Report fest, dass die Menschenrechts-Lage leider in den meisten Ländern stagniert. Allein in Europa haben 20 von 49 Ländern keinen gesetzlichen Schutz für ihre Bürger:innen gegen Hasskriminalität aufgrund ihrer sexuellen Identität. Noch mehr europäische Länder, nämlich 28, bieten keine Schutz-Mechanismen bei Gewalt gegen die geschlechtliche Selbstbestimmung. In 69 Ländern der Welt ist Homosexualität verboten, in sechs Ländern steht auf homosexuelle Handlungen die Todesstrafe, in fünf weiteren Ländern kann unter bestimmten Umständen die Todesstrafe dafür ausgesprochen werden. In 32 Staaten ist die gleichgeschlechtliche Ehe erlaubt, in einigen dieser Länder können die Ehepartner:innen jedoch kein Kind adoptieren. In 27 Ländern ist die Adoption durch gleichgeschlechtliche Paare erlaubt; in zwei von ihnen ist aber die Ehe nicht legalisiert.
Ich kann mich also frei bewegen, muss keine Angst vor staatlicher Repression haben, und nach einem langen Kampf darf ich seit gut 4 Jahren auch heiraten. Aber bei intensiver Betrachtung ist Deutschland trotzdem kein gelobtes Land für queere Menschen. Das höre ich nämlich oft von Leuten, meistens zum IDAHOBIT oder rund um die CSD-Saison, warum wir denn noch protestieren, wir haben doch alles an Gleichstellung erreicht. Sogar heiraten dürfen wir jetzt. Ja, aber… Beim sogenannten „Rainbow Index“ der ILGA kommt Deutschland auf dem 15. Platz daher. Alle Antidiskriminierungs-Gesetzgebungen und sonstige Menschenrechts-relevante Faktoren zusammengenommen hat Deutschland nur zu 53% einen umfassenden Schutz für seine queere:n Bürger:innen (der höchste Wert liegt übrigens bei 72% und wird von Belgien erreicht).
Und das liegt vor allem daran, dass wir wieder in alte Rollen, Muster und Kämpfe zurückfallen. Kämpfe um Identitätspolitiken, Deutungshoheiten. Corona hat sein Übriges dazu getan, dass jede:r erstmal nur sich sieht und im Zweifel nach unten tritt. Zudem ist der Ton im gesellschaftlichen Miteinander, vor allem im Internet, ohnehin rauer geworden. Wir haben in der Community zwei große problematische Themen im Bereich der gesellschaftlichen und rechtlichen Anerkennung. Das erste besteht darin, dass auch lesbische oder schwule Paare Kinder haben können. Vor allem bei Zwei-Mütter-Familien, also Regenbogenfamilien, in die ein Kind hineingeboren wird, muss die nicht-leibliche Mutter ihr Kind nach wie vor in der Ehe adoptieren. Die ganzen Kontrollen und Prüfungen, die die Familie über sich dabei ergehen lassen muss, sind unwürdig. Dagegen ist ein Mann in einer heterosexuellen Ehe automatisch der Vater eines Kindes, egal, ob er auch wirklich der biologische Vater ist. Und überprüft wird das natürlich nicht, auch finanzielle Auskünfte muss diese „Kernfamilie“ dem Staat nicht geben. Die neue Bundesregierung hat zwar Veränderungen im Abstammungsrecht versprochen. Aber die konservativen Kräfte in diesem Land stellen sich ebenso entschlossen dagegen auf und sind sehr am Lobbyieren. Das Thema Kindeswohl ist heiß umstritten. Aber geht es allen Beteiligten denn wirklich ums Kindeswohl? Ich glaube nein. Hier wird um Ideologien gestritten. Und die gehen definitiv an der Menschenwürde vorbei.
Noch stärker wird aufgerüstet beim zweiten Thema: Selbstbestimmung für trans Menschen. Auch hier möchte die Bundesregierung die Gesetzeslage ändern und das viel Leid bringende Transsexuellengesetz gegen ein Selbstbestimmungsgesetz ersetzen. Um es nicht mit denselben aggressiven, verletzenden Worten zu sagen wie die Gegner:innen des geplanten Gesetzes: Was an meinem Frausein wird mir abgesprochen, wenn trans Frauen endlich der Schutz und die Selbstbestimmung zukommt, die sie wünschen und brauchen? Warum wird Menschen nicht zugetraut, dass sie selbst am besten bestimmen können, wer sie sind? Warum löst die Erkenntnis, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt, solchen Hass aus? Warum genau sind geschlechtliche Identitäten jenseits der Binarität für viele Menschen so bedrohlich, dass sie ihnen das Existenzrecht und damit die Würde entziehen? Wo wird mir etwas weggenommen oder werde ich benachteiligt, wenn andere gleichgestellt werden? Mehr noch: Warum kann ich nicht für andere mitkämpfen, weil sich dann für alle etwas verbessert? Wer in einer Minderheit ‚ich‘ sagt, sagt automatisch auch ‚wir‘. Das war in den 1970ern schon so, als die Homosexuellen-Bewegung wenigstens zeitweise mit der Frauenbewegung einherging.
Es wirkten schon damals mehrere Faktoren zusammen: Weiß sein. Europäer:in sein. Mittelklasse sein. All diese Teile einer Identität sind politisch. Und so, wie sie jemanden charakterisieren, inkludieren sie andere Menschen im selben Augenblick oder schließen sie aus. Das ist eigentlich der Ur-Impetus aller queeren und feministischen Bewegungen. Denn das hat bereits bei den Stonewall Riots eine Rolle gespielt, dem Beginn aller Christopher Street Days und Pride Parades. Trans Frauen wie Marsha P. Johnson haben für mich gekämpft – und gleichzeitig für BpoC, Obdachlose und andere von Gesellschaft und Politik Vergessene, die noch nicht einmal die Chance hatten, einen Ort wie das „Stonewall Inn“ als ihren Ort aufsuchen zu können.
Gesellschaftliche und politische Verhältnisse ändern sich erst, wenn einer Klasse (oder Minderheit) ein Bewusstsein dafür entsteht, stellte 1988 der britische Soziologe jamaikanischer Herkunft Stuart Hall fest und warnte gleichzeitig vor falsch verstandener, künstlicher Gruppenidentität. Schon damals gab es natürlich Kämpfe um Identitätspolitiken, und das Ich wurde in den Vordergrund gestellt. Aber Hall erkannte, dass Rasse untrennbar mit Klasse – und damit Rassismus verwoben ist. Für ihn war Identität nicht selbstverständlich, sondern dessen Ausdruck genauso umkämpft wie Kultur und immer verbunden mit Repräsentation und Ideologie. Mensch kann nicht sein ohne Inklusion und Exklusion. Das Leben – ein ständiges Aushandeln von Differenz und Eigenem. Und warum? Um Würde herzustellen, damit alle gleichberechtigt zusammenleben können. In Deutschland bedeutet das für mich: Damit jede:r den Schutz von Art. 3 des Grundgesetzes genießen kann. Und deswegen sollten wir auch weiterhin intersektional zusammen kämpfen. Es gibt noch so viel zu tun.

Die Autorin Kerstin Rudat ist Kulturwissenschaftlerin und Journalistin, seit dem Studium PNJ-Mitglied und war auch schon mal im Vorstand aktiv. In ihrem Heimat-Bundesland Hessen hat sie für das Rhein-Main-Gebiet mitgeholfen, „SchLAu“ (schwul-lesbische Aufklärung in der Schule) aufzubauen. Queere Bildung ist neben Rechtspopulismus auch in Baden-Württemberg weiterhin ihr Schwerpunkt im Rahmen ihrer Vorstandstätigkeit für den Landesverband des Lesben- und Schwulenverbandes Deutschland e.V. (LSVD BW).
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