Glaube ist der Aufstand gegen die Unwürde
„Wird die Welt gerechter, wenn wir einfach behaupten, sie sei gerecht?“, fragt Stefan Jung und forscht nach Beweisen für die Unantastbarkeit der Menschenwürde.
Menschenwürde. Menschen und Würde. Würde – das klingt im Deutschen wie nach Konjunktiv, nach der Möglichkeitsform von „werde“. Wie etwas, das noch nicht Wirklichkeit ist. Und das scheint ja auch offensichtlich der Fall zu sein.
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ So steht es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Diese Erklärung wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 nach den unmittelbaren Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges, nach Hiroshima und Shoa, nach Krieg, Terror, Folter und Vergewaltigung verkündet: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“

Obwohl die UN-Menschenrechtserklärung als einfache Erklärung, denn sie ist ja kein Gesetz, keinen völkerrechtlich verbindlichen Charakter besitzt, wird sie im Allgemeinen als Bestandteil des Rechts der Vereinten Nationen und als Gewohnheitsrecht angesehen. Mit Übersetzungen in mehr als 300 Sprachen ist sie neben der Bibel einer der am meisten übersetzten Texte. In Deutschland hat die Menschenwürde sogar Gesetzesstatus: In Artikel 1 unseres Grundgesetzes von 1949 heißt es wortwörtlich: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Hinter allem steht die eine Frage: Gibt es etwas, was dem Menschen Würde verleiht, ist der Mensch von Geburt an und über den Tod hinaus mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet, die er sich nicht selbst geben – und deshalb auch nicht wieder nehmen kann? Aber die auch kein anderer ihm nehmen darf.
Ich möchte an dieser Stelle einen Gedanken teilen. Er lautet: „Die Würde des Menschen ist antastbar! Aber ich glaube an ihre Unantastbarkeit.“
Der Mensch ist antastbar. Seine Würde wird an jedem Tag, jede Sekunde, jede Minute, an fast jedem Ort dieser Welt angetastet. Die Würde wird beschädigt, beschmutzt, beschmiert, besudelt… Gegenwärtig ganz besonders in der Ukraine. Der Mensch ist sehr antastbar – und seine Würde allemal. Wer etwas anderes behauptet, ist naiv oder schaut nicht richtig hin.
Der Mensch ist antastbar und mit ihm seine Wohnung, sein Land, seine Familie, die Liebe, sein Leben – und auch seine Würde. Und gerade deshalb, vor dem Hintergrund dieser Erfahrung hat man gesagt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das ist die Paradoxie der Menschenwürde: Weil sie angetastet wird, soll sie unantastbar sein.
Ich frage mich: Was gibt dem Menschen eigentlich diese Würde? Wo kommt sie her? Reicht es, dass man sie behauptet oder ausspricht? Kann sich der Mensch Würde selber zusprechen? Wird die Würde weniger oft angetastet, wenn wir behaupten, sie sei unantastbar? Wird das Leben weniger gewalttätig, wenn wir behaupten, das Leben sei gewaltlos? Wird die Welt gerechter, wenn wir einfach behaupten, sie sei gerecht?
Die Idee der Menschenwürde hat tiefreichende historische Wurzeln. Vorläufer dessen, was wir heute unter Menschenwürde verstehen, finden sich bereits im frühen Judentum, und dann auch im Christentum. Dazu zählt der Gedanke der Gottesebenbildlichkeit des Menschen: Gott schuf den Menschen sich zum Bilde im Buch Genesis im ersten Teil der Bibel. Daraus folgt die fundamentale Gleichheit aller Menschen. Ich stelle fest: Über den Anfang kann ich nicht verfügen, der entzieht sich meiner Einflussnahme. Und so ist das eben auch mit der Würde.
Oder wie Fulbert Steffensky es einmal formulierte: Die Schöpfungsgeschichte auf den ersten Seiten der Bibel ist eine Geschichte vom guten Anfang. Diese Welt und der Mensch fingen gut an. Alles war ganz unverdorben. Die Bibel erzählt uns mit dieser Geschichte, was wir ahnen, wenn wir einen neugeborenen Menschen sehen. Der ist ganz neu. Unversehrt, unbeschädigt, unberührt – ganz unangetastet. Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, Gott wie aus dem Gesicht geschnitten, aus gleichem Holz, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.
Die Frage ist nicht so sehr, ob du das glauben kannst, dass dein Anfang nicht Zufall war, sondern eine Idee Gottes. Die Frage ist nicht so sehr, ob du den Menschen als Spiegelbild Gottes sehen kannst. Die Frage ist vielmehr, was mit einem geschieht, wenn man das glaubt? Was geschieht mit einem, wenn er im Gesicht seines Mitmenschen und in seinem eigenen Gesicht Gott wiedererkennt? „Namasté! – Ich habe Gott in dir gesehen“, so wie es die Menschen in Indien sagen. Wenn einer behauptet, dass jeder Mensch ins Leben geliebt wurde, macht das einen Unterschied? Ja, denke ich, es macht einen Unterschied. Unabhängig davon, ob es beweisbar und richtig ist.
Die Sprache des Glaubens behauptet immer mehr als sie beweist. Und so ist dieser erste Artikel unseres Grundgesetztes nicht nur ein politischer, sondern ein zutiefst gläubiger Satz. Ich glaube an die Würde des Menschen, an ihre Unantastbarkeit. Ich kann sie nicht beweisen. Es gibt viel mehr Beweise für ihre Antastbarkeit. Aber ich behaupte weiterhin ihre Unantastbarkeit. Der Glaube übt täglich den Aufstand gegen die nüchterne Realität, gegen jeden Post und gegen jeden Fernsehbericht und auch gegen jede eigene Erfahrung der Unwürde.

Autor:
Stefan Jung ist Wirtschaftswissenschaftler und lehrt, forscht und berät zu Themen organisationaler und gesellschaftlicher Transformation. An der CVJM-Hochschule Kassel ist er Professor für Management und Organisation, in Berlin gründete er die Public One GmbH. Er lebt mit seiner Familie im Ruhrgebiet in einer evangelischen Kommunität. Der Text entstand als Andacht im Kontext einer Lehrveranstaltung an der Hochschule im April 2022.
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