Würde – ein Tanzfilm
Nadja Görts ist die Choreographin des Tanzfilms Würde, der bereits mehrere Preise gewann. Mit uns hat sie über die Entstehung des Films und ihr Verständnis von Würde gesprochen.
Einblicke in die Arbeit an Würde, Copyright: Nadja Görts
WerteJahre: Frau Görts, Sie haben einen Tanzfilm über Würde choreografiert. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?
Nadja Görts: In meiner Schulzeit bin ich aufs Gymnasium in Ratingen gegangen, und da gehörte es dazu, dass man das städtische Industriemuseum Cromford besichtigt. Ich war damals ganz verzückt von dem imposanten Gartensaal der Familie Brügelmann, der sich als Tanzsaal gut eignen könnte. Bei meiner weiteren Recherche erfuhr ich, dass dieses herrschaftliche Anwesen u.a. durch Kinderarbeit während der Industrialisierung ermöglicht wurde. Diese Kehrseite der Medaille interessierte mich.
Wie entsteht so eine Choreografie eigentlich? Könnten Sie den Prozess einmal für uns erläutern?
Nachdem ich selbst als Choreographin mit der Recherchearbeit begonnen hatte und viel über das Thema Menschenwürde, Menschenrechte, Kinderarbeit und Industrialisierung weltweit zusammengetragen hatte, suchte ich nach dem geeigneten Team für mein Tanzprojekt. Es waren allesamt befreundete Tänzer:innen aus der Umgebung von Köln, da ich es für wichtig empfand bei dieser sensiblen Thematik mit Menschen zu arbeiten, die offen und ehrlich miteinander interagieren.
Nach intensiven Gesprächen über die Historie, die Thematik und auch dem Besuch des Herrenhauses, begannen wir mit den Proben zu dem eigens für diesen Film komponierten Musikstück. Mir war es wichtig, beim choreographischen Prozess sowohl Soli als auch Gruppensequenzen zu erarbeiten. Das Ende des Stücks war eine vor mir vorgegebene Choreographie, ebenso der Bodenteil.
Die Soli hingegen wollte ich möglichst authentisch und individuell gestalten, weswegen ich mit jedem Tanzenden durch Improvisation die persönliche Bewegungssprache herausarbeiten wollte. Die diverse kulturelle Herkunft der Tanzenden unterstreicht eine verschiedenartige Auffassung von Würde und Menschenrechten. Einflüsse aus Ballett, orientalischem Tanz, Voguing, Performance und dem elementaren Tanz verschmelzen dabei in eine zeitgenössische Choreographie.
Was bedeutet für Sie Würde und wie ist Ihr Verständnis von Würde in die Umsetzung des Films eingeflossen?
Menschenwürde ist keine Eigenschaft. Dem Begriff liegt die Idee zugrunde, dass jeder Mensch allein schon durch seine Existenz wertvoll ist. Trotzdem ist der Begriff der Menschenwürde schwer zu fassen. Würde, dignitas, bedeutet für mich Achtung. Menschenwürde muss man sich nicht verdienen oder erarbeiten. Jeder besitzt sie von Geburt an – und doch: Wie unantastbar ist sie wirklich? Dieser Frage wollten wir im Film auf den Grund gehen.
Hatten Sie das Ergebnis direkt vor Augen, oder hat sich die Bedeutung von Würde für Sie während Ihrer Arbeit nochmal verändert?
Eine Filmszene war mir von Anfang an wichtig und im wahrsten Sinne genau so vor Augen: Der Moment, in dem alle Tanzenden wie ein „Wollknäul“ gemeinsam auf dem Boden liegend, sich gegenseitig wild berühren, anfassen, angreifen, festhalten, wegschieben, Grenzen überschreiten und die Würde des Menschen in der Tat antasten.
Haben Sie die Bedeutung von Würde auch gemeinsam mit den Tänzer:innen thematisiert?
Wir haben uns mit den Tanzenden gemeinsam viel mit dem Thema Würde auseinandergesetzt. Wir haben diskutiert, die Gesetzestexte gewälzt und vor allem auch die diversen kulturellen Hintergründe beleuchtet. Wir haben Tänzer:innen aus der Türkei, Rumänien, dem Iran und Deutschland bei dem Projekt dabei und hier gab es unterschiedliche Auffassungen.
Die Tänzer:innen erinnern an Soldat:innen oder Gefangene. Die meisten Tanzsequenzen zeigen die Tänzer:innen allein; sie zeigen, wie die Tänzer:innen fallen, aber sich auch wieder aufrichten. Dennoch ist der Film eingerahmt in gemeinsame Szenen. Besonders eindrücklich war die Szene, als eine Tänzerin zu Boden geht und die anderen drei sich dazu legen. Sie scheinen sich aneinander festzuhalten. Ist Würde ein Gemeinschaftsprojekt?
Den Vergleich mit Soldat:innen und Gefangenen habe ich schon einmal gehört, auch den Vergleich zu Zwangsarbeitenden. So konkret war meine persönliche Vorstellung nicht, das überlasse ich gerne der Vorstellungskraft des Publikums, aber es ging schon um eine Art Hierarchie, Gesellschaftsordnung. Die vier Tanzenden in ihren Arbeiteroveralls, dreckig und barfuß, bilden bewusst optisch einen Kontrast so zu diesem Raum!
Würde war ein großes Herzensprojekt meines Mannes Benedikt Görts, der Filmproduzent ist, und mir. Durch ein engagiertes Team wurde es ein wahres Gemeinschaftsprojekt. Jens Wirtzfeld als Regisseur fing wahrhaft intime Momente mit der Kamera ein und Thorben Winkler erschuf durch die sogenannte Fraktaltechnik eine weitere Perspektive. Es handelt sich hier ausdrücklich um keine Computeranimation. Hierzu interagierten die Tänzer:innen mit einer separaten Kamera, welche direkt vor einem Monitor platziert wurde und das Gefilmte auf diesem wiedergab. Durch die Trägheit der Bildübertragung kam es zu einer Zeitverzögerung der Choreografie und kreierte so neue Bewegungsansätze. Es entstand ein Kaleidoskop so vielseitig, wie das Verständnis von Würde.
Auch nach Beendigung der Dreharbeiten beschäftige uns als Team das Projekt weiter, sodass wir die Möglichkeit hatten, eine Livechoreographie daraus zu entwickeln, die bisher im Herrenhaus Cromford in Ratingen präsentiert wurde und auch im Juni in Köln gezeigt wird. Besonders der Austausch in den Publikumsgesprächen im Anschluss an die Aufführungen sind hier interessant und wertvoll für uns. Wir sind stolz, dass der Film aktuell bei so vielen Festivals zu sehen ist und bereits einige Preise gewonnen hat, u.a. „Best Choreography Filmed“ in Los Angeles und „Audience Choice Award“ in Philadelphia.
Vielen Dank für das Gespräch! Der Film kann durch freundliche Genehmigung der Choreografin exklusiv geschaut werden: Dignity (Würde)
Interview: Gina Tomaszewski

Nadja Görts, geboren in Düsseldorf, bekam bereits im Alter von vier Jahren ihren ersten Tanz- und Musikunterricht. Sie studierte Gesang, Tanz und Schauspiel in Osnabrück und ließ sich während des Studiums zur Tanz- und Bewegungspädagogin fortbilden. Nach jahrelanger eigener Tanz- und Schauspielerfahrung, beispielsweise an der Deutschen Oper am Rhein und in zahlreichen Musicals, ist sie heute international als Choreographin und Regisseurin tätig sowie als freie Mitarbeiterin für Tanzpädagogik an der Oper am Rhein. Außerdem ist sie Stipendiatin des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfahlen und wird durch Dis-Tanz-Solo gefördert.
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