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„Die Heiligkeit der Menschenwürde zu verordnen macht sie noch nicht zu einer gesellschaftlichen Wirklichkeit.“

Malte Möbius hat seinen Bachelor in Sozialwissenschaften und seinen Master in Political Science an der Uni Köln absolviert, wo er gerade zum Thema „Zukunft der Menschenwürde“ promoviert. Sein erstes Buch heißt „Die heilige Ordnung der Menschenwürde“ und untersucht Würde aus fachübergreifender wissenschaftlicher Perspektive. Mit uns hat er über Würde als Zivilisationsmodell gesprochen – viel Spaß beim Hören! Wer lieber lesen möchte, findet unten eine gekürzte Version unseres Gesprächs.

Interview mit Malte Möbius

WerteJahre: In deinem Buch „Die heilige Ordnung der Menschenwürde“, beschäftigst du dich aus wissenschaftlicher Perspektive mit Menschenwürde. Wie bist du denn dazu gekommen?

Malte Möbius: Im Laufe meiner Schulzeit habe ich eine Person kennengelernt, die an Multiple Sklerose (MS) litt. Das ist eine Nervenkrankheit, die das zentrale Nervensystem angreift, wodurch sich zunehmende Bewegungseinschränkungen entwickeln. MS-Patienten werden im Laufe der Krankheit immer stärker von ihrer Mit-Welt abhängig. Im Rahmen ihrer Versorgung sind mir massive Defizite in der Gesellschaft aufgefallen. Wir haben eigentlich sozialpolitische Vorgaben, wie so eine Versorgung laufen soll. Dabei ist der Wert der Menschenwürde der oberste Wert, der nicht nur gesetzlich, sondern auch grundrechtlich verankert ist. In der Realität klaffen hier aber große Lücken in der gesellschaftlichen Verwirklichung dieser Grundrechte. Ich habe mich im Rahmen meines Studiums mit Sozialpolitik und den weiteren Hintergründen auseinandergesetzt und schließlich meine Bachelor-Arbeit über die Situation der MS-Patientin geschrieben. Im Laufe meines Studiums habe ich mich aber nicht nur aus rechtlicher Perspektive mit dem Thema beschäftigt, sondern auch aus Perspektiven der Anthropologie, Psychologie, Politische Theorie und KulturgeschichteIch möchte dazu beizutragen, dass wir in Zukunft in einer würdevolleren Gesellschaft leben können. Mir ging es darum, die Wege aufzuzeichnen, wie wir dahin kommen.

Kommen wir zu deinem Buch. Kannst du zu Anfang einmal vorstellen, womit du dich darin konkret beschäftigst?

Das Buch ist aus einem Vortrag entstanden, in dem ich das Buch meines jetzigen Doktorvaters Prof. Frank Schulz-Nieswandt über die „Menschenwürde als heilige Ordnung“ zusammengefasst und in kulturgeschichtliche und psychologische Aspekte eingebettet habe. Daraus ist dann eine viel zu lange Seminararbeit entstanden, die dann, mit Unterstützung des Professors als besagtes Buch herausgegeben wurde.
Der Begriff des „Heiligen“ irritiert vielleicht zuerst, es ist aber nicht religiös gemeint, sondern benennt eine innere Überzeugung, die jeder Mensch in sich trägt und die sich auf verschiedene Arten ausrichten kann. Der Untertitel des Buches „Die Sakralität der Person verstehen, begründen, problematisieren“, ist angelehnt an das Buch des Sozialphilosophen Hans Joas. Darin geht es darum, dass das Werte wie Menschenwürde nicht das menschliche Individuum, sondern die menschliche Person betreffen. Diese ist also nicht nur ein von der Welt abgekapseltes Individuum ist, sondern mit anderen Fragmenten der Mitwelt verbunden ist. Man kann die Menschenwürde daher als Anrecht auf das gelingende Werden der menschlichen Person als etwas Heiliges, etwas Unantastbares betrachten und eben auch glauben. Dadurch gewinnt der Grundwert der Würde an kultureller Substanz. Die Sakralität der Person kann jedoch nicht nur verordnet, sondern muss auch geglaubt werden. So wie das Bewusstsein nach der Geburt heranwächst, hat man auch eine innere Gerechtigkeitsempfindung. Das ist die innere Überzeugung, dass man als Mensch ein gelingendes Leben entfalten will. Joas‘ These ist, dass es im Laufe der Kulturgeschichte verschiedene Artikulationen dessen gab, teils auch im religiösen Gewand. Nach und mit den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs hat man dann versucht, diese Überzeugung als eine universelle rechtliche Grundlage, die unantastbar ist, zu verankern. 1948 wurde das Konzept der Menschenwürde festgehalten und in verschiedenen Menschenrechtsabkommen konkretisiert. Damit haben wir nun einen rechtlichen Überbau, der die Werte und Grundrechte beinhaltet, mit denen wir unser gelingendes Leben gemeinsam gestalten können.

Eine deiner Grundthesen, ist, dass wir als Menschen gemeinsam existieren und um dieses Miteinander-Sein überhaupt zu organisieren, brauchen wir eine Ordnung. Du stellst verschiedene Ordnungsformen der menschlichen Existenz vor. Könntest du die nochmal zusammenfassen?

Ich habe mir die historische Entwicklung politischer Ordnung angeschaut und habe drei zentrale Modelle herausgestellt. Zum einen das Modell der Absoluten Ordnung, eine bereits vorgegebene Ordnung, die vom Menschen nachvollzogen, aber nicht verändert werden kann. Die Ordnung ist gegeben, aber sie ist nicht vom Menschen zu hinterfragen. Das wäre zum Beispiel in einem Gottesstaat der Fall, der sich auf ein heiliges Gottesrecht beruft. Im antiken Griechenland kam ein anderes Zivilisationsmodell auf, das ich das Modell der Politischen Selbstbestimmung genannt habe. Dort erzeugen die Menschen selbst die Ordnung und Regeln für unser Miteinander. In Europa feierte dieses Modell spätestens mit der französischen Revolution seine Renaissance.
Dieses Modell der politischen Ordnung hat jedoch die Eigenschaft, dass die Ordnung, beliebig sein und verändert werden kann. An dieser Stelle wurde häufig der Vorwurf des Relativismus gemacht, wodurch sich diese Ordnung selbst abschaffen könne. Beispielsweise mit der Ergreifung der Nationalsozialisten zum Ende der Weimarer Republik kam es zur Auflösung des Ordnungsprinzips der politischen Selbstbestimmung. Sie haben sich zunächst mit mehr oder weniger demokratischen Mitteln, zumindest innerhalb einer Demokratie, an die Macht gehoben und daraufhin die Ordnung so umgestaltet, dass es keine politische Selbstbestimmung mehr gab, sondern in eine Absolute Ordnung zurückgekippt ist. In dieser Ordnung sind massive Menschenrechts- und Menschenwürdeverletzungen passiert. Nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs kam es dann zur Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte, was ein wichtiger Schritt zum Zivilisationsmodell der Heiligen Ordnung der Menschenwürde betrachtet werden kann. Es sollte eine politische Selbstbestimmung geben, diese sollte aber soweit mit unveränderlichen Vorgaben, wie z.B. der Menschenwürde als unantastbarem Wert begrenzt werden, dass sie sich eben nicht mehr selbst auflösen könne. Das Problem ist allerdings, dass das Heilige nicht nur verordnet werden kann, sondern auch geglaubt werden und in diesem Sinne auch praktiziert werden muss. Erst dann kann die Heilige Ordnung der Menschenwürde umfassende soziale Wirklichkeit werden.

Die Heilige Ordnung der Menschenwürde ist also ein erstrebenswerter Zustand ist, den wir gerade noch nicht haben, aber wollen. Die Menschenwürde ist bereits im rechtlichen Überbau, den du gerade angesprochen hast, verankert. Warum reicht diese rechtliche Sicherung nicht aus, sondern braucht es diese Heiligkeit?

Die Heiligkeit der Menschenwürde zu verordnen macht sie noch nicht zu einer gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die innere Überzeugung, die ich eben angesprochen habe, muss von innen heraus gelebt werden. Man muss hineinwachsen in diese Offenheit den Mitmenschen gegenüber. Der Einzelne muss jedoch auch eine faire Chance zur Persönlichkeitsentwicklung haben, wofür wiederum die Gesellschaft die Verantwortung trägt.
Menschenwürde und Menschenrechte legen Grundlagen unseres Miteinanders fest. Ein wichtiger Teil ihrer Verwirklichung ist jedoch eine Kultur, worin die Unantastbarkeit der Menschenwürde als innere Überzeugung im alltäglichen Miteinander spürbar wird. Der Glaube an die Sakralität der Person ist so gesehen als Kraftquelle zu verstehen, die dazu motiviert, an einer menschenwürdigen Welt mitzuwirken. Letztlich ist das gesellschaftliche Miteinander entscheidend darüber, ob das Leben des Einzelnen gelingt. Hier ist die Haltung zum Leben entscheidend. Wenn man sich nämlich primär im Konkurrenzkampf gegenübertritt, kommt die Frage auf, wie mit so einer Grundhaltung große gesellschaftliche und ökologische Herausforderungen im 21. Jahrhundert bewältigt werden sollen.

In dem Zuge sprichst du ja auch davon, dass wir erkennen müssen, dass wir alle „Im selben Boot sitzen“. Kannst du das nochmal ausführen?

Zum einen ist das eine deskriptive Grundannahme. Der Mensch ist ein politisches Wesen, das auf Andere angewiesen ist. Den Gedanken gibt es schon bei Aristoteles und er kann empirisch belegt werden. Aber auf der anderen Seite ist der Gedanke, dass wir alle im selben Boot sitzen, auch eine Vision. In unserer Gesellschaft gibt es so viele Ungerechtigkeiten und Ausgrenzungsstrukturen, dass beim Einzelnen schnell das Gefühl aufkommt, von der Gesellschaft getrennt und auf sich allein gesellt zu sein. Der Aspekt, dass wir alle „im selben Boot sitzen“ hebt den Zusammenhang, in dem wir uns befinden, hervor, ob ökologisch, kulturgeschichtlich oder sozial. Letztlich gilt dieser Gedanke global, denn wir leben in einem globalen Kontext, der in Zukunft eher zunehmen wird. Man kann das Mensch-Sein zudem auch in einem überzeitlichen Zusammenhang denken, aber das thematisiere ich dann in meiner Doktorarbeit zum Thema „Intertemporale Humangerechtigkeit“.

Dein Ansatz der Heiligen Ordnung der Menschenwürde scheint ja sehr normativ. Wieso ist das Thema Würde als gesamtgesellschaftliches Thema so wichtig für dich und wieso hältst du es für so erstrebenswert?

Das Normative bezieht sich ja darauf, wie es sein soll. Daher hat die heilige Ordnung der Menschenwürde natürlich einen normativen Anteil. Menschenwürde ist ein Maßstab, der politischen Entwicklungen setzt. Gehen wir aber nochmal zur allgemeinen Menschenrechtserklärung von 1948 zurück: Da wurde ein Regelwerk gestaltet, welchen Grundrechten das Miteinander von Menschen genügen soll. Die Idee der Unantastbarkeit der Menschenwürde ist aber nicht aus der Luft gegriffen, sondern kann anthropologisch, psychologisch und soziologisch fundiert werden. Ein wichtiger Teil des Buches beschäftigt sich mit den biopsychologischen Aspekten des Mensch-Seins. Es ist also durchaus ein normativer Schluss, dass wir den Maßstab derMenschenwürde brauchen, aber er ist gleichzeitig wissenschaftlich fundiertbar, anhand dessen, was sich über das gelingende Mensch-Sein in Erfahrung bringen lässt.

Bleiben wir mal bei dem Soll-Zustand. Was können wir denn als Gesellschaft aber auch als Einzelpersonen tun, um die Würde als heilige Ordnung anzuerkennen?

Wir haben auf der gesellschaftlichen Ebene die Möglichkeit, Strukturen zu fördern, die die Menschen zu der Überzeugung der Heiligen Ordnung der Menschenwürde inspirieren. Zum Beispiel, indem allgemein gesagt Demütigungsstrukturen, wie Armut, Ausgrenzung, Ungerechtigkeit abgebaut werden. Da ist mitunter ein Bereich der Sozialpolitik, im Grunde aber eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Es können auch Befähigungsstrukturen geschaffen werden. Das wären zum Beispiel Chancengleichheit, Bildung und die Förderung sozialer Gerechtigkeit, aber auch ein Projekt wie WerteJahre trägt dazu bei, die Idee in die Welt zu tragen.
Auf persönlicher Ebene kann man sich individuell engagieren, aber man kann sich auch ganz einfach für sich fragen, wie das eigene Leben aussehen soll und sich dem Grundrecht der Würde bewusst werden. Das kann auch die eigene Einstellung zum Leben verändern, so dass man empathischer an die Mitwelt herantritt und in der Lage ist, eine andere Person als Menschen anzuerkennen, der genau die gleichen Rechte hat.

Zum Abschluss: Was bedeutet Würde denn konkret für dich?

Wir leben in einer Gesellschaft, die sich um alle kümmern soll, aber gleichzeitig so stark auf Leistung ausgerichtet ist, so dass viele Leute durchs Raster fallen. Da gibt es viele Defizite, wie auch meine Erfahrung mit der MS-Patientin gezeigt hat. Das Konzept „Würde“ hat mir einen Anhaltspunkt geliefert, unsere Gesellschaft und ihre Defizite zu verstehen.
Was ich auch sehr spannend finde, ist, dass Würde als innere Überzeugung die Haltung zu den Mitmenschen transformiert und dass man die schönen Aspekte des Miteinanders aktiv erlebt.
Ein wichtiges Gut unserer heutigen Kultur ist die Freiheit, aber was man nicht vergessen darf, ist die Gebundenheit der Freiheit. Wir können nicht einfach machen, was wir wollen, sondern unsere Freiheit endet da, wo wir andere einschränken. Der Freiheitsaspekt ist also eine Miteinander-Freiheit, die Verantwortung von uns fordert und auch nach Bewusstsein für das Miteinander verlangt – was jedoch erst miteinander erlernt werden muss. Würde ist ein gutes Mittel, um dieser Verantwortung nachzukommen und ein gelingendes Miteinander zu schaffen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Sehr gern!

Wer sich weiter mit Maltes Arbeit beschäftigen möchte, kann sein Buch „Die heilige Ordnung der Menschenwürde“ lesen, welches über die meisten Uni-Bibliotheken für Studenten kostenlos und auch online verfügbar ist. Er arbeitet außerdem neben seiner Doktorarbeit gerade an weiteren Büchern, z.B. „Kosmisches Bewusstsein und Politische Ordnung“, es lohnt sich also, ihm zu folgen.

Interview: Gina Tomaszewski