„Würde ist ein intrinsischer Wert jeder Person“
Ban Linh Le, Babatunde Williams, Abigail Branford, Isabel de Brigard und Lena Wagner sind die Gesichter hinter Frontline100. Gemeinsam haben sie das Social Start-Up gegründet, welches Unternehmen dazu berät, wie sie Betroffene häuslicher Gewalt unterstützen können. Sie werden von Expert:innen unterstützt und bieten Trainings für Mitarbeiter:innen sowie Strategien für Unternehmen an. Mit uns haben sie darüber gesprochen, wie ihnen die Idee zu ihrer Organisation kam und wie die Situation in Deutschland für Betroffene von häuslicher Gewalt aktuell aussieht.

Ihr habt eine Organisation gegründet, die Unternehmen zum Thema „häusliche Gewalt“ sensibilisiert. Wie seid ihr auf die Idee gekommen?
Babs: Ich komme ursprünglich aus London und habe dort mehr als 10 Jahre in der Prävention und Bekämpfung häuslicher Gewalt gearbeitet. In Großbritannien werden Arbeitgeberstrategien gegen häusliche Gewalt seit einigen Jahren bereits erfolgreich eingesetzt. Und auch in Ländern wie den USA, Kanada oder Neuseeland werden solche Programme immer populärer. Daher ist unser Ansatz keine neue Idee per se. Stattdessen sammeln wir Ansätze, die in anderen Ländern funktionieren und passen sie an den deutschen Kontext an.
Warum habt ihr euch entschieden, konkret für Aufklärung am Arbeitsplatz einzutreten?
Lena: Die Arbeit ist der Ort, an dem die meisten Menschen die meiste Zeit außerhalb ihres Zuhauses verbringen, und wo daher eine einmalige Möglichkeit besteht, Betroffene frühzeitig und effektiv zu unterstützen. Außerdem hat eine national repräsentative Umfrage, die wir letztes Jahr bei YouGov in Auftrag gegeben haben, ergeben, dass sich Opfer häuslicher Gewalt während der Pandemie öfter an Kollegen und Kolleginnen wandten, als an Polizei, den Gesundheitsbereich oder spezialisierte Beratungsdienste.
Während der Corona-Pandemie wurde das Thema „häusliche Gewalt“ präsenter. Aufgrund der Maßnahmen spielte sich ein Großteil des Lebens zu Hause ab, was das Problem verschlimmerte, wie diverse Medien berichteten. Wie erlebt ihr das in eurer Arbeit?
Lena: Diese Erkenntnis hat sich leider auch in unserer Forschung bestätigt. Mehr als jede dritte gewaltbetroffene Personen hat angegeben, dass die Intensität der Gewalt sich verschlimmert hat. Vor dem Hintergrund, dass „work-from-home“ in vielen Bereichen bleiben wird und wir angesichts der andauernden Pandemie eventuell auch wieder Ausgangsbeschränkungen erleben werden, unterstreicht dieses Ergebnis, dass es höchste Zeit ist, zu handeln.
„Um ein sicheres Umfeld für Betroffene zu schaffen, ist es wichtig, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, was häusliche Gewalt überhaupt ist.“
Häufig ist die Erfahrung von häuslicher Gewalt mit Scham verbunden, weshalb es Betroffenen schwerfällt, darüber zu sprechen. Ihnen wird ein Stück ihrer Würde genommen. Wie muss ein Umfeld aussehen, in dem Betroffene sich wohl und sicher genug fühlen, um ihre Situation anzusprechen?
Ba Linh: Gewalt in der Familie und in Beziehungen ist sehr komplex. Viele Menschen, die noch nie mit diesem Thema in Berührung gekommen sind, haben eine relativ vereinfachte Vorstellung von häuslicher Gewalt. Das liegt auch daran, dass das Thema in Deutschland generell relativ wenig politische Aufmerksamkeit erfährt und wenig in Aufklärungsarbeit investiert wird. Es gibt ja nicht mal eine rechtliche Definition häuslicher Gewalt oder ein eigenes Gesetz in Deutschland, damit stehen wir in der EU mittlerweile ziemlich alleine da und auf einer Stufe mit zum Beispiel der Orbán-Regierung in Ungarn. Das spiegelt sich auch darin wieder, dass Deutschland die höchste Akzeptanzrate von körperlicher Partnerschaftsgewalt in der gesamten OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Anm. der Redaktion) aufweist.
Lena: Um ein sicheres Umfeld zu schaffen, in dem Betroffene ihre Erfahrungen teilen können, ist es also wichtig, erstmal ein Bewusstsein dafür zu schaffen, was häusliche Gewalt überhaupt ist und weshalb es so schwierig sein kann, da raus zu kommen. Und dann geht es natürlich um einen sensiblen Umgang mit diesem Wissen. Dabei muss unbedingt darauf geachtet werden, das eigene Urteil außen vor zu lassen und sich auf die emotionale und praktische Unterstützung der betroffenen Person zu fokussieren.
Was kann ich konkret tun, wenn ich den Verdacht habe, dass eine Kollegin oder Bekannte häusliche Gewalt erfährt?
Isabel: Wir haben einen Mini-Guide entwickelt, der dabei helfen soll, häusliche Gewalt besser zu verstehen und Betroffene zu unterstützen. Grundsätzlich sollte man sich fragen, ob man die richtige Person ist, das Gespräch zu führen, also ob man ein Vertrauensverhältnis zueinander hat. Wenn ja, sollte man einen neutralen Ort wie beispielsweise einen Park oder ein Café aufsuchen und ansprechen, weshalb man diesen Verdacht hat, beispielsweise dass die Person in letzter Zeit sehr fahrig wirkt und sich zurückzieht. In diesem Gespräch sollte man signalisieren, dass man bereit ist, Unterstützung zu leisten. Wie genau das aussieht, kann natürlich sehr unterschiedlich sein. Als Führungskraft kann man vielleicht die Arbeitsbelastung senken, damit Betroffene Zeit für Termine mit Anwältinnen oder Ärzten haben. Als Kollege kann man einen Teil dieser Arbeit auffangen oder auch einfach nur auf konkrete Hilfsdienste, intern wie extern, hinweisen.
Aus eurer Perspektive: Was bedeutet für euch Würde?
Würde setzt voraus, dass wir als Personen grundlegenden Rechte haben und verlangen können, dass diese geschützt werden. Sie ist ein intrinsischer Wert jeder Person, der allen anderen Rechten zugrunde liegt, auf die wir uns als Gesellschaft einigen.
Vielen Dank für das Gespräch. Interessierte können auf der Website von Frontline100 mehr Informationen zu der Organisation bekommen.
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