Eine gesellschaftlich fast schon anerkannte Form des Rassismus
Interview mit Dr. Mehmet Daimagüler, dem ersten Antiziganismus-Beauftragten der Bundesregierung

PNJ: Herr Daimagüler, geben Sie uns bitte einen kurzen Einblick: Wie viele Sinti und Roma leben zurzeit in Deutschland, und wie lässt sich ihre Lebenssituation im Allgemeinen mit wenigen Worten umreißen?
Dr. Mehmet Daimagüler: Die Schätzungen der Selbstorganisationen von Sinti und Roma in Deutschland liegen zwischen 70.000 bis 150.000 Menschen. Eine genauere Bezifferung der Größe der Minderheit ist schwierig, weil in Deutschland keine Daten zur ethnischen Zugehörigkeit statistisch erfasst werden. Viele Angehörige der Minderheit geben sich gegenüber Dritten nicht als solche zu erkennen, weil sie -leider zu Recht- rassistische Anfeindungen, Ausgrenzung und Diskriminierung befürchten.
Die Lebenssituation von Sinti und Roma in Deutschland lässt sich nicht in wenigen Worten angemessen darstellen, da sie sich sehr heterogen gestaltet. Es gibt Sinti-Familien, die seit 600 Jahren in Deutschland über Generationen gelebt haben. Deren Situation lässt sich nur schwerlich mit einer Roma-Familie vergleichen, die z.B. in den 90er Jahren vor Krieg und Verfolgung aus dem West-Balkan nach Deutschland geflohen ist. Allerdings eint beide Familien im Lebensalltag in Deutschland, dass sie wegen ihrer Zugehörigkeit zur Minderheit der Sinti und Roma strukturellem Rassismus und Stigmatisierung ausgesetzt sind. Viele Roma aus dem Balkan müssen mit einem prekären Aufenthaltsstatus leben, oft nur einer Duldung, die immer nur für eine kurze Zeit gewährt wird, immer wieder verlängert werden muss, und dies zum Teil über viele Jahre hinweg. Das führt zu einem anhaltenden Gefühl der Ohnmacht, zumal regelmäßig Roma ausgewiesen und abgeschoben werden in Länder ohne jede Aussicht auf ein Leben in Würde.
PNJ: Laut Grundgesetz ist die Würde des Menschen unantastbar. Es scheint oft so, als ob manche Menschen im Umgang mit Sinti und Roma eine Ausnahme von diesem Grundsatz machen. Woran liegt das Ihrer Erkenntnis nach?
Dr. Mehmet Daimagüler: Wenn die Würde des Menschen unantastbar ist, warum bedarf es denn des Artikels 1 des Grundgesetzes? Die Wahrheit ist doch, je ärmer ein Mensch ist, je stärker er als „fremd“ gelesen wird, umso wahrscheinlicher ist es, dass seine Würde eben nicht geachtet wird. Vereinigen sich diese Merkmale in einer Person – Armut und wirkliche oder zugeschriebene Fremdheit – ist es fast sicher, dass dieser Mensch um seine Würde kämpfen muss. Die Besonderheit bei Antiziganismus ist, dass es sich dabei um eine gesellschaftlich fast schon anerkannte Form des Rassismus handelt, der deswegen weder als solcher anerkannt und erst recht nicht bekämpft wird.
PNJ: Antisemitismus ist in Deutschland geächtet – das kann man von Antiziganismus nicht gerade behaupten. Woran liegt das?
Dr. Mehmet Daimagüler: Es wurde nicht erst im Rahmen der aktuellen documenta-Debatte klar, dass auch Antisemitismus in Deutschland weiterhin ein großes Problem darstellt. Aber Sie haben natürlich recht, Antiziganismus wird in weiten Teilen unserer Gesellschaft nicht problematisiert und ist Teil deutscher Alltagskultur.
Die Ursünde der nachkriegsdeutschen Gesellschaften in Ost und West ist, dass nie eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem deutschen Völkermord an den Sinti und Roma Europas stattgefunden hat. Erst 1982 hat mit Bundeskanzler Helmut Schmidt überhaupt ein deutscher Regierungschef erstmals das Wort „Völkermord“ in den Mund genommen, und dass auch erst nach einem Hungerstreik und Protesten der Bürgerrechtsbewegung. Die erste Entschuldigung eines deutschen Staatsoberhaupts für den Völkermord erfolgte durch Bundespräsident Steinmeier im April 2022 (!), 77 Jahre nach Ende des Krieges. Schlimmer noch: die Täter, die vielen kleinen und großen Völkerschlächter, durften nach dem Krieg das Narrativ bestimmen und das lautete: Wir (Polizisten, Staatsanwälte, Richter) durften nach dem Krieg ungestraft behaupten, „die Maßnahmen“ gegen die „Zigeuner“ seien mitnichten „rassisch“ motiviert, sondern dienten einzig der „Kriminalitätsbekämpfung“ und, soweit Kleinkinder und Säuglinge in die Lager verschleppt und dort ermordet wurden, um „präventive Kriminalbekämpfung“. Die Opfer des Völkermords durften keine Opfer sein, sondern Kriminelle und die wahren Opfer waren die Deutschen, die sich ja irgendwie wehren mussten. Die Opfer mussten schuldig sein, damit die Täter und das Tätervolk insgesamt ihre Unschuld behaupten durften. Dieses Narrativ vom gefährlichen und kriminellen Z, der nicht etwa gesellschaftlich ausgegrenzt und diskriminiert ist, sondern sich bewusst außerhalb der Gesellschaft positioniert hat, besteht im Grund noch heute.
Schauen Sie sich doch mal die Diskussionen um „Clankriminalität“, „Enkeltrick-Clans“, „Großfamilien“ und so weiter doch einmal an. In einem Polizeipapier hieß es sinngemäß in einer Überschrift „200.000 Personen sind Teil von Clanfamilien“, aber nur einige sind kriminell“. Was soll das denn heißen? Entweder hat man sich rechtskräftig festgestellt strafbar gemacht, oder man ist es nicht. Warum aber tauchen unbescholtene Familienangehörige von Straftätern in Polizeistatistiken auf? Das macht man ja auch nicht bei Straftätern aus der Mehrheitsgesellschaft. Na, weil eben bei Minderheiten, insbesondere bei Sinti und Roma, aber auch bei arabischen oder kurdischen Menschen andere Regeln gelten: Da ist der Verdacht alleine durch die Tatsache der Herkunft begründet und rechtfertigt eben das „präventive“ Agieren der Polizei. Der lange Zeit verleugnete Völkermord wirkt bis heute fort. Polizei und Justiz setzten nach 1945 in einer bemerkenswerten personellen und ideologischen Kontinuität die Verfolgung der Minderheit fort, so dass Historikerinnen heute von einer „Zweiten Verfolgung“ sprechen.
Entschädigungen wurden nur sporadisch geleistet, gestohlenes und zerstörtes Eigentum nicht zurückgegeben bzw. ersetzt. Aus den Lagern heimkehrenden Überlebenden wurden von Behörden die Ausstellung von Geburtsurkunden und Personaldokumente verweigert, so dass Menschen, die seit Jahrhunderten in Deutschland lebten und Deutsche waren, zu Staatenlosen wurden. Die intergenerationellen Traumata eines insbesondere nicht aufgearbeiteten Völkermordes belasten noch heute Menschen aus der Community, selbst Teenager und wie könnte es auch anders sein?
Die Forderung der Unabhängigen Kommission Antiziganismus nach einer Aufarbeitung dieser „Zweiten Verfolgung“ von Sinti und Roma in der Bundesrepublik durch eine Wahrheitskommission ist für mich ein zentrales Anliegen.
PNJ: Sinti leben seit 600 Jahren im deutschen Sprachraum, Roma wohl seit 200 Jahren – und doch halten sich Vorurteile gegen beide Gruppen besonders hartnäckig. Was können Sie als Antiziganismus-Beauftragter der Bundesregierung tun, um mit solchen Stereotypen aufzuräumen?
Dr. Mehmet Daimagüler: Wir müssen uns z.B. klar machen, welche negativen Konsequenzen es hat, wenn öffentliche Behörden auf Grundlage von Stereotypen agieren. Strafverfolgungsbehörden kommen schnell zu falschen Ermittlungsergebnissen, wenn sie sich in ihrer Arbeit von rassistischen Stereotypen und nicht von objektiven Erkenntnissen leiten lassen. Ähnlich ist es beim Arbeitsamt, wenn einer jungen Romni mit akademischen Abschluss Arbeitsstellen zur Gebäudereinigung angeboten werden. Dagegen müssen wir die Opfer rassistischer Stereotype besser schützen, indem wir unabhängige Beschwerdestellen einrichten und Sensibilisierungsmaßnahmen zum Thema Rassismus und Antiziganismus innerhalb staatlicher Stellen zur Regel machen. Entscheidend ist aber, dass wir aufhören müssen, über die Belange von Sinti und Roma zu sprechen, ohne Sinti und Roma am Gespräch zu beteiligen, und zwar auf Augenhöhe. Wir brauchen verfestigte Strukturen, um die Beteiligung der Sinti und Roma bei Entscheidungen auf kommunaler-, länder- und Bundesebene sicherzustellen.
PNJ: Noch 2018 hat ein Duisburger Bürgermeister im direkten Bezug auf Sinti und Roma erklärt: „Ich muss mich hier mit Menschen beschäftigen, die ganze Straßenzüge vermüllen und das Rattenproblem verschärfen.“ Solche Aussagen sprechen Sinti und Roma kollektiv die Menschenwürde ab. Wie können sich Betroffene wehren?
Dr. Mehmet Daimagüler: Ich war erst letzten Monat in Duisburg auf Einladung einer lokalen Initiative, die sich für die Rechte der zugewanderten Menschen vor Ort engagiert. Die zitierte Aussage ist natürlich indiskutabel. Ich habe im Gespräch mit den Menschen vor Ort den Eindruck gewonnen, dass die Stadt es nicht geschafft hat, in einen Dialog mit den Betroffenen zu kommen. Das ist ein Versäumnis, denn in der Community ist viel Sachverstand und Engagement vorhanden. Die Betroffenen fordern zu Recht von der Politik, dass sie sich der Vielfalt der Stadtbevölkerung und den damit einhergehenden Herausforderungen stellt. Grundsätzlich, ganz unabhängig von Duisburg gesprochen: Es wird unserer Demokratie insgesamt, und nicht „nur“ den Betroffenen massiv schaden, wenn Meinungsäußerungen von Vertretern demokratischer Parteien sich anhören, wie solche von Parteien, die zu Recht vom Verfassungsschutz beobachtet werden.
PNJ: Tut unser Bildungssystem genug, um Antiziganismus zu begegnen?
Dr. Mehmet Daimagüler: Tut unser Bildungssystem irgendwas in diesem Kontext, möchte ich fast sarkastisch antworten. Im Ernst: Es tut jedenfalls nicht genug. Die Geschichte der Deutschen Sinti und Roma, ihr Verfolgungsgeschichte bis heute, ebenso wie ihre kulturellen Leistungen, spielen im Schulunterricht immer noch keine große Rolle. Zudem erfahren Angehörige der Minderheit der Sinti und Roma in Deutschland in der Schule weiterhin strukturelle Benachteiligung. Die Ergebnisse einer umfassenden Befragung der Minderheit im letzten Jahr (RomnoKher Studie 2021) zeigen, dass 60% der Befragten die Schule als einen Ort von Diskriminierung und Rassismus erleben. Es ist alarmierend, dass der Anteil der jungen Menschen, die ohne Abschluss die Schule verlassen, bei Angehörigen der Minderheit zwei Mal höher als der Bevölkerungsdurchschnitt ist.
PNJ: Das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas in Berlin ist ein schöner und wirklich – bleiben wir beim Thema – würdevoller Ort. Jetzt könnte er durch den Neubau eines S-Bahn-Tunnels beeinträchtigt werden. Was steht da genau ins Haus, und wie gehen Sie damit um?
Dr. Mehmet Daimagüler: Dani Karavan hat mit dem Gedenkensemble einen besonderen Ort für die Erinnerung an die Ermordung der Sinti und Roma durch die Nationalsozialisten geschaffen. Es ist ein Ort der Erinnerung an die Opfer und ein Ort der Mahnung für die deutschen Gesellschaft zur Verantwortung, die wir gegenüber den Sinti und Roma Europas haben.
Eine Entscheidung in der Sache gibt es noch nicht. Ein wichtiger Aspekt der Diskussion sollte meines Erachtens eine enge Einbindung der Vertreterinnen und Vertreter der Minderheit und Transparenz über die Handlungsoptionen sein. Die Community hat Anspruch darauf, dass wesentliche Player in dieser Frage mit offenen Karten spielen und genau und nachvollziehbar darlegen, warum Optionen, die das Mahnmal unberührt lassen, unmöglich sind. Diese Darlegungspflicht betrifft vor allem die Deutsche Bahn, aber auch den Deutschen Bundestag.
PNJ: Noch ein paar Sätze zu Ihnen. Wer sich Ihre Arbeit als Anwalt anschaut, stellt fest: Ihre Klienten sind oft Menschen, die in ihrer Würde angegriffen wurden. Das sind Opfer von Hasskriminalität, Angehörige von Minderheiten und die Hinterbliebenen der NSU-Morde. Was treibt Sie an?
Dr. Mehmet Daimagüler: Ich könnte jetzt natürlich sagen, meine ehrenwerten Überzeugungen, meine edle Selbstlosigkeit. Aber ehrlich gesagt, bin ich mir nicht immer sicher. Ein wichtiger Antrieb für mich jedenfalls ist Schuld und Scham. Mein ganz persönliches Versagen, wenn ich nicht widersprochen habe, wenn Z*-„Witze“ in meiner Gegenwart erzählt wurden, das mitheulen mit den Wölfen, weil ich dazugehören wollte, meine Feigheit in vielen Situationen, mein Opportunismus. Ich schäme mich für viele Dinge, die ich getan habe, für viele Dinge, die ich gesagt habe, für den Schmerz, den ich anderen Menschen zugefügt habe. Ich möchte nicht als der Mensch sterben, der ich lange Zeit war. Aber die einzige Reue, die zählt, ist die tätige Reue.
Interview: Jörg Wild
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