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WerteJahr 2023: Gerechtigkeit

Das schulden die Menschen einander

Einführende Gedanken zum WerteJahr Gerechtigkeit

„Das ist nicht gerecht!“ ruft das kleine Kind, dessen größerer Bruder länger wach bleiben darf. Und überhaupt nicht gerecht finden Normalverdiener und Steuerzahler, dass reiche Erben vergleichsweise winzige Erbschaftssteuern zahlen müssen. Ist es gerecht, dass eine verständlicherweise besorgte Klimaaktivistin als „Klimakleberin“ zu vier Monaten Haft verurteilt wird, während ein anderer Straftäter mit einer milden Bewährungsstrafe „davonkommt“? 

Gerechtigkeit, das zeigen diese wenigen Beispiele, scheint immer ein sehr subjektiver Begriff zu sein. Es kommt scheinbar ganz oft auf den Blickwinkel an, auf die eigene Betroffenheit, auf ein Bauchgefühl, auf die Sozialisation. Damit scheint eine Diskussion über Gerechtigkeit immer uferlos zu sein. Ist sie aber nicht – und genau darum soll es in diesem WerteJahr gehen. 

Wir wollen – wie schon in den Vorjahren mit „Frieden“ und „Würde“ – in diesem Jahr den Wert „Gerechtigkeit“ von möglichst vielen Seiten beleuchten und ihn zur Diskussion stellen. Und damit zeigen: Eine Diskussion über Gerechtigkeit ist eben nicht uferlos oder ausschließlich subjektiv, sondern sie kann sich an festen Normen und universell akzeptierten Fixpunkten orientieren. Der Wunsch nach Gerechtigkeit lebt in allen von uns – es lohnt sich also, genauer hin zu sehen und darüber zu diskutieren. Denn wie heißt es so schön im Alten Testament: „Der Pfad der Gerechten ist wie das Licht am Morgen.“ Weniger pathetisch hat es der deutsche Mathematiker, Physiker, Philosoph, Sprachwissenschaftler und Historiker Gottfried Wilhelm Leibniz umschrieben: „Die Gerechtigkeit ist nichts anderes als die Nächstenliebe des Weisen.“

Sehen wir mal genauer hin und widmen uns der Frage: Was ist „Gerechtigkeit“ per Definition? Wie so oft lohnt sich ein Blick in die Informationen der Bundeszentrale für politische Bildung, die nicht nur viele kluge Autor*innen beschäftigt sondern auch zur Neutralität verpflichtet ist. Hier lesen wir, dass „Gerechtigkeit das Verhalten eines Menschen oder eine soziale Gegebenheit bezeichnet, die subjektiv als gerecht beurteilt wird. Gerechtigkeit ist insofern eine Tugend.“ Gleichzeitig gilt sie als „ein zentraler Grundwert und oberstes Ziel des Rechtsstaates, das als Ordnungs- und Verteilungsprinzip immer wieder neu bestätigt und angewandt werden muss.“

Natürlich ist auch der Begriff „Rechtsstaat“ an sich wieder sehr diskussionswürdig. Aber feststeht: Fachautor*innen unterscheiden seit der Antike zwei Formen von Gerechtigkeit. Wir folgen an dieser Stelle Prof. Dr. Nick Lin-Hi, Professor für Wirtschaft und Ethik von der Universität Vechta, der im Wirtschaftslexikon Gabler einen vorzüglichen Eintrag liefert. 

Die Tausch-Gerechtigkeit oder ausgleichende Gerechtigkeit, regelt das Verhältnis zwischen Gleichen. Im Tausch müssen Leistung und Gegenleistung äquivalent sein.

Die zuteilende Gerechtigkeit, regelt das Verhältnis zwischen Ungleichen, also beispielsweise zwischen Staat und Bürger. Hier muss die übergeordnete Instanz „an verschiedene Menschen mit untergeordnetem Status ohne konkrete Gegenleistung“ ihre Dienste so zuteilen, dass Menschen mit gleichem Status gleich behandelt werden (horizontale Gerechtigkeit) und der Abstand zwischen verschiedenen Positionen angemessen berücksichtigt wird (vertikale Gerechtigkeit). Die zuteilende Gerechtigkeit bezieht sich also auf das Verhältnis des Individuums zur Gemeinschaft.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts kommt noch eine dritte Gerechtigkeitskategorie in die Diskussion: Die soziale Gerechtigkeit. Sie wird natürlich in verschiedenen politischen und sozialen Systemen ganz unterschiedlich definiert und empfunden – und wir werden uns im Zuge des Gerechtigkeits-WerteJahres auf jeden Fall mit diesem Thema beschäftigen.

Ist es gerecht, dass in manchen Teilen der Welt, Kinder bereits arbeiten müssen, um für sich und die Familie zu sorgen? (Bild: Tinnakorn/ AdobeStock)

Gerechtigkeit beschäftigt uns alle täglich, auch wenn wir es nicht immer so nennen. Wir wünschen uns den russischen Präsidenten Putin vor einem internationalen Strafgerichtshof, während der amerikanische Ex-Präsident Bush trotz seines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges gegen den Irak straffrei in Texas beim Malen infantiler Bilder seine Rente auskosten darf. Gerecht? So wenig wie das viel zu hohe Gehalt für den Schaumschlägerkollegen, der weniger leistet als seine Kollegin, die als Frau per se weniger verdient.

Belassen wir diese Einführung mit einem Zitat des emeritierten Philosoph Professors Ottfried Höffe: „Gerechtigkeit ist das, was die Menschen einander schulden, Wohltätigkeit ist das, was darüber hinaus geht.“

Wir wünschen Ihnen und Euch ein spannendes WerteJahr zum Thema Gerechtigkeit!