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Die vergessenen Opfer des Nationalsozialismus

Im EL-DE-Haus gingen die Teilnehmerinnen des Würde-Workshops der Frage nach, mit welchen Herausforderungen die Erinnerungskultur an die NS-Verbrechen in den 2020er Jahren konfrontiert.

Text: Merle Klingenberg

Zukunft braucht Erinnerung! Deshalb ist es weiterhin wichtig, an die Schrecken des Nationalsozialismus zu erinnern, auch wenn das Geschehen schon fast 80 Jahre her ist. Genau hierfür gibt es viele Vereine und Arbeitskreise, die noch heute dafür arbeiten, die deutsche Vergangenheit nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

Einer von ihnen ist der EL-DE-Haus e.V., ein 1988 gegründeter, gemeinnütziger Förderverein für das NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln. Er widmet sich dem Gedenken, Erforschen und Vermitteln der Geschichte Kölns im Nationalsozialismus. Aufgaben des Vereins sind zum Beispiel das Sammeln von Spenden zur Unterstützung der Arbeit des NS-Dokumentationszentrums sowie Initiativen zur Aufarbeitung der NS-Zeit in Köln. Neben dem NS-Dokumentationszentrum betreibt der EL-DE-Haus e.V. auch eine Meldestelle gegen Antisemitismus und eine Beratungsstelle gegen Rechtsextremismus mit Bildungsprogrammen, Schulbesuchen, Veranstaltungen und vielem mehr.

Dabei hat das Gebäude, in dem der EL-DE-Haus e.V. sitzt, das namensgebende EL-DE-Haus, allein schon eine spannende Vergangenheit vorzuweisen. Sein Name kommt von den Initialen seines Bauherrn, Leopold Dahmen. Gebaut wurde es in den 1930er Jahren und war ursprünglich als Wohn- und Geschäftshaus konzipiert.

Doch schon früh wurde das Gebäude von der Gestapo angemietet, welche von 1935 bis 1945 seinen Sitz im EL-DE-Haus hatte. Genutzt wurde die Baulichkeit zunächst hauptsächlich für Büros, im Keller richteten die Nationalsozialisten Verhörzellen ein, welche aber wenig später als Gefängnis und für Folter, Einsperrungen und Erschießungen genutzt wurden. Noch heute sind in den Zellen Wandinschriften der Gefangenen erhalten. Es waren Botschaften der Hoffnung und der Verzweiflung.

Nach dem Krieg wurde die Vergangenheit des Hauses schnell verdrängt und die Stadt Köln nutzte das Gebäude für Behörden und Ämter. Ob Rentenstelle, Standesamt oder Rechts- und Versicherungsamt, viele Menschen mussten nun für alltägliche Sachen in jenes Haus, in dem sie zuvor gefangen und gequält worden waren. Um dieser Verdrängung entgegenzutreten und die Allgemeinheit auf die Vergangenheit des EL-DE-Hauses aufmerksam zu machen, dokumentierten der Fotograf Gernot Huber und der Lehrer Kurt Holl eines Nachts heimlich den Zellentrakt im Keller des Gebäudes. Daraufhin gab es in der Öffentlichkeit einen Aufschrei. Es entstand eine Bürgerinitiative in dessen Folge sich der Förderverein EL-DE-Haus e.V. gründete und ein NS-Dokumentationszentrum in eben jenem Gebäude errichtete.

Mittlerweile ist das NS-Dokumentationszentrum die größte, lokale Gedenkstätte für Opfer des Nationalsozialismus in Deutschland und bietet ein Forum für alle, die sich kritisch mit dem NS und seinen Auswirkungen bis in die Gegenwart auseinandersetzen wollen.

In einem Gespräch mit Martin Sölle, einer von zwei Vorsitzenden des EL-DE-Haus e.V., wurden vor allem die vergessenen Opfer des Nationalsozialismus thematisiert. Man spricht deshalb von vergessenen Opfern, weil ihr Schicksal in der Vergangenheitsbetrachtung wenig oder gar keine Aufmerksamkeit bekommen hat. Das Bundesentschädigungsgesetz gewährte nur denjenigen Personen Entschädigungen, welche von den Nazis aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung verfolgt worden waren. Auch in der DDR gab es staatliche Leistungen nur für politische Gegner und Opfer rassistischer Verfolgung.

Noch heute ist die Anerkennung als Verfolgte des NS sehr wichtig, da dies in einem bestimmten Maß eine späte gesellschaftliche Rehabilitierung der ehemaligen Häftlinge bedeutet. Manche Gruppen wurden jedoch erst nach vielen Jahren als Opfer des NS anerkannt. Einige haben die Anerkennung bis heute nicht erhalten. Zu den vergessenen Opfern des Nationalsozialismus zählen beispielsweise homosexuelle Männer, Rom*nja und Sinti*zze, Menschen mit Behinderung, Euthanasie-Opfer sowie untergetauchte und versteckte Menschen, Vertriebene und Kinder in NS-Erziehungsheimen.

Zwangsarbeiter*innen wurden jahrzehntelang als übliche Begleiterscheinung von Krieg und Besatzungsherrschaft bezeichnet und damit nicht als spezifisches NS-Verbrechen anerkannt.

Auch Zwangssterilisierte sind vergessene Opfer des NS. Obwohl das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ das erste Rassengesetz der Nationalsozialisten war und hunderttausende Menschen zwangssterilisiert, vergast und zu Tode gehungert wurden, kämpfen die Überlebenden bis heute um ihre Anerkennung als NS-Opfer sowie um eine Entschädigung.

Eine weitere Gruppe der vergessenen NS-Opfer sind die sogenannten „Asozialen“. Dazu gehören alle Menschen, welche durch das Raster des NS-Gesellschaftsbildes gefallen sind. So zum Beispiel Wohnungslose, Landstreicher*innen, Wanderarbeiter*innen, Alkoholkranke, Zuhälter*innen, Prostituierte und Fürsorgeempfänger*innen. Der Begriff gilt als Sammelkategorie zur Verfolgung sozialer Außenseiter. Gleiches gilt für Berufsverbrecher*innen, welche wegen Eigentumsdelikten, wie Einbruch, Diebstahl, Betrug oder Hehlerei vorbestraft waren, ihre Haftstrafen aber meist schon vor 1933 abgesessen haben. So wurden sie ohne konkreten Tatvorwurf in „Vorbeugehaft“ genommen und in einem Konzentrationslager inhaftiert.

„Vielfach war die KZ-Haft eines Familienmitglieds tabuisiert, denn das Stigma ›asozial‹ oder die Kennzeichnung als ›Berufsverbrecher[*in]‹ wirken bei vielen Menschen schon durch die Wortwahl bis in unsere Tage und sorgen für große Verunsicherung“, so Henning Borggräfe, Abteilungsleiter im Bereich Forschung und Bildung der Arolsen Archives, dem internationalen Zentrum über NS-Verfolgung. Im Februar 2020 stimmte der Bundestag einem Antrag zu, der „Asoziale“ und „Berufsverbrecher*innen“ auch endlich als „Opfer des nationalsozialistischen Unrechtssystems“ anerkennen soll. Hoffen wir, dass dies für alle anderen Gruppen ohne bisherige Anerkennung auch schnellstmöglich passiert!